Sehnsuchtsorte
25.1.
—
2.4.2018
Was können für uns Orte der Sehnsucht sein? Wodurch zeichnen sie sich aus und durch was können sie eine Brüchigkeit erfahren? Was entspricht unserer persönlichen Vorstellung von einem aussergewöhnlichen Tag, einem besonderen Naturerlebnis, paradiesischen Zuständen für uns oder auch andere Lebewesen? Können wir dies im Alltag finden? Auf unterschiedlichste Weise ergründen die ausgewählten Videoarbeiten diese Frage nach einer gesellschaftlichen und individuellen Sehnsucht und einem idealen Ort des eignen Seins. In grossformatigen Videoinstallationen, die miteinander in Verbindung treten, wurden ausgewählte Arbeiten von Teresa Hubbard / Alexander Birchler, Max Philipp Schmid, Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger sowie Monica Studer / Christoph van den Berg zu diesem Thema gezeigt.
Die Videoarbeit Eight, 2001 von Teresa Hubbard / Alexander Birchler verweist bereits im Titel auf das, was hier erzählt wird, wie auf die Struktur dieser Erzählung. Offenbar kreist sie um den (achten) Geburtstag eines Mädchens — und das in einer endlosen Schleife. Die Kamera fährt, unterbrochen nur von zwei kurzen Schnittfolgen, konstant vom Interieur eines Hauses in den Garten und wieder zurück. Die Verortung von sowie der Übergang zwischen innen und aussen sind dabei ebenso ungeklärt wie der Ausgangs- und Endpunkt der Erzählung. Zwischen diesen unklaren Verhältnissen pendelt das Mädchen hin und her. Im verregneten nächtlichen Garten angekommen, macht es sich an die Überreste der ins Wasser gefallenen Party heran und schneidet sich ein Stück von der Geburtstagstorte ab. Doch bevor es hineinbeissen kann, ist das Mädchen schon wieder im Haus angekommen, um von hieraus erneut seinen Weg nach draussen anzutreten. Wann immer es die Grenzen zwischen innen und aussen — behütetem Heim und stürmischer Welt — überschreitet, haben sich die räumlichen Ordnungen bereits verkehrt. Eight markiert einen Lebensabschnitt des Mädchens, das den ‹Zufluchtsort› der Kindheit verlässt und zur Heranwachsenden wird. Eight wurde 2001 in Austin, Texas gedreht. Eine Version von Eight ist in der webbasierten Sammlung des Bewegtbildes des Kantons Basel-Landschaft dotMov.bl. enthalten.
Ein Jahrzehnt nach der Entstehung von Eight 2001 begannen Hubbard / Birchler mit der Suche nach der Schauspielerin, die die Rolle des Mädchens in Eight verkörpert hatte. Sie fanden sie in Boston, wo sie in der Zwischenzeit als zeitgenössische Tänzerin lebte. Der Film Eighteen greift die gleiche Figur auf und zeigt sie in einer Szene während der Feier ihres 18. Geburtstags. Wie in Eight haben Hubbard / Birchler auch in dem neuen Film eine narrative Perspektive entwickelt, die unruhig ist und nicht zum Stillstand kommt, zugleich zwischen Adoleszenz und Erwachsensein oszillierend. Während die Protagonistin von einem Ort zum anderen reist, gleiten lineare Zeit, Tatsachen und Fiktion sowie die Beständigkeit des physischen Zufluchtsortes ständig um sie herum. Stetige, ununterbrochene Kamerabewegungen überspannen konstruierte und tatsächliche Orte, innen und aussen, Regen und Sonnenschein, Tag und Nacht, Sommer und Winter. Eighteen umfasst drei musikalische Kompositionen, die auf der Gitarre arrangiert und eingespielt wurden: die Gymnopédies von Erik Satie. Diese 1888 für Klavier komponierten Sätze haben eine gemeinsame Struktur und gelten als wichtige Wegbereiter der modernen Ambient-Musik. Eighteen wurde 2012 in Austin, Texas gedreht und in der Schweiz bislang erst einmal gezeigt: 2015 im Aargauer Kunsthaus Aarau im Rahmen der Ausstellung Nachtbilder.
Die beiden Filmbeiträge Eight und Eighteen von Teresa Hubbard / Alexander Birchler wurden zu unterschiedlichen Zeiten im Kunsthaus Baselland gezeigt. Eighteen (25. Januar—16. März 2018), Eight (17. März—2. April 2018).
Wir kennen diesen Blick — er streift über eine frühlingshafte alpine Blumenwiese, mit Gräsern, unterschiedlichen Gewächsen, Gestein. Endlos gleitet der Blick, lässt sich verwöhnen von dem, was er erkennt — immer weiter, in der Erwartung darauf, dass sich der Blick bald heben mag und man den Horizont sieht, die Weite der Landschaft oder aber das urbane Umfeld. Diesen Wunsch jedoch erfüllt die Arbeit Wiese von Monica Studer / Christoph van den Berg nicht. Es ergibt sich kein schnelles Erfassen des Gesehenen und auch kein finaler Überblick über die Landschaft, die man soeben visuell betreten hat. Fast sehnsüchtig folgt das Auge daher der Realtime-Animation, bei der sich Studer / van den Berg der digitalen Technik des 3D-Computerspiels bedienen. In kontinuierlicher Echtzeit werden die Bilder immer wieder neu gerechnet. Blumen, Gräser, Steine und Geäst entstehen immer wieder neu als 3D-Objekte und führen hinein in eine ins endlos laufende digitale Kamerafahrt durch die fiktive Landschaft. Ja, man kann sich zurücklehnen und diese Animation von Zeit und Bewegung geniessen, sich von Flora und Fauna begeistern lassen. Doch so sehr die Faszination darüber herrschen mag, wie eng Fiktion mit Wahrheitsempfinden verbunden sein und Natur auch digital animiert genossen werden kann, so mischt sich darunter auch ein Gefühl von Unsicherheit und Unbehagen. Nie kann der Blick vom Boden abgelenkt werden, um doch erfahren zu können, wohin die Wiese einen führt.
P-A-R-A-D-I-E-S buchstabiert der Protagonist in Max Philipp Schmids Videobeitrag. Langsam, fast etwas unbeholfen. Inmitten eines Gewächshauses sitzend, stellt sich rasch die Frage, welche Vorstellungen wir vom Paradies oder paradiesischen Zuständen haben. Reicht ein bisschen Natur, gezähmt in einem Gewächshaus? Und wie steht es mit dem alltäglichen Idyll, das wir uns oftmals einzurichten versuchen, mit umzäunten, perfekt gestalteten Vorgärten, Stadtbegrünung oder teilweise befremdlich wirkendem Stadtmobiliar, die dann doch nicht über die harte urbane Realität hinwegtäuschen können? Der «Hortus conclusus», das umzäunte und damit geschützte Gärtchen als idealisierter Rückzugsort, scheint — landauf, landab — immer wieder heraufbeschworen zu werden. Humorvoll und tiefgründig zugleich befragt Max Philipp Schmid in seiner Videoarbeit durch genaue Beobachtung des Alltäglichen, wie eng die allgegenwärtige Tendenz von Rückzug und Abschottung mit der Sehnsucht nach einem idealen, naturverbundenen Leben zusammenhängt.
«Sie sind ja auch nur spirituelle Wesen, die Erfahrungen eines Lebens als Huhn machen…» Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger im Gespräch mit Ines Goldbach
Ines Goldbach (IG): Lasst uns also über Hühner sprechen. Wann ist ein Huhn glücklich?
Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger (GS&JL): Wenn es am frühen Morgen aus dem Stall auf die Wiese rennt und Regenwürmer aus dem Boden herauszieht, wenn es mit seiner Gang ums Haus herumstreicht und dann mit jungen Schnecken garnierten Schokoladenpudding entdeckt.
IG: Das klingt schon sehr nach paradiesischen Zuständen für ein Huhn, wie sie leider eher die Ausnahme denn die Regel sind. Wie seid ihr auf die Idee zu Cockaigne gekommen — diesen wunderbaren Film über ein Schlaraffenland für Hühner, in welches man sich ehrlich gesagt auch gerne gleich selbst mit hineinbegeben möchte?
GS&JL: Das Schlaraffenland ist eine Welt, die wir schon lange im Blick haben. Im Mittelalter und auch später, wenn Hungersnöte übers Land kamen und in Zeiten grosser Entbehrungen, da träumten sich die Menschen in ein Land, in dem alles im Überfluss vorhanden ist: Zuerst muss man sich durch einen Berg von Pflaumenmus einen Tunnel ins Schlaraffenland essen. Dann erreicht man das fröhliche und glückliche Land, wo in den Brunnen Milch und Honig fliessen, in den Bächen purer Wein und die gebratenen Enten einem direkt in den Mund fliegen. Es ist strengstens verboten zu arbeiten, und wer das trotzdem tut, kommt sofort ins Gefängnis. Es gibt auch Schlaraffenlandvorstellungen, bei denen sich die armen Leute ausmalen, wie das Leben wäre, wenn sie die Reichen wären. Oder eine umgekehrte Welt, wo die Tiere die Rolle der Menschen spielen und der Mensch ist das Tier. Und zu guter Letzt auch noch die Vorstellung, dass die Kinder den Erwachsenen sagen, wie der Hase nun läuft. Es geht also um ein Gegenbild zum bestehenden Zustand oder zur herrschenden Ordnung. Hühner leben schon sehr lange mit den Menschen, aber so respektlos, wie sie heute in der industriellen Eier-und Fleischproduktion gehalten und gezüchtet werden, war das wohl noch nie der Fall. Eier und Hühnerfleisch sind viel zu billig!
IG: Wäre euer Film nicht ein fantastischer Werbefilm für artgerechte beziehungsweise paradiesische Tierhaltung und das schmackhafte Produkt «Ei»?
GS&JL: Unser Film war tatsächlich als Werbefilm gedacht. Wir wollten an der ArtBasel das Beste, das wir haben, verkaufen: sechs Eier von verschiedenen Hühnern in verschiedenen Farben. Diese Eier stammten aus der Zeit, in der die Hühner im Schlaraffenland gelebt haben. Die gefressene Installation Schlaraffenland ist somit durch das Huhn in die Eier gefahren. Unser Eierhändler, die Galerie Stampa, hat sie dann auch an der Art verkauft.
IG: Und war den Käufern respektive Käuferinnen bewusst, was für besondere »Kunstwerke« sie da erwerben?
GS&JL: Ja, sicher. Unsere Eierhändler sind gute Kunstvermittler.
IG: Habt ihr somit für einmal euren Hühnern ein Schlaraffenland geboten, von dem jedes Huhn nur träumen kann?
GS&JL: Die Träume der Hühner kennen wir nicht. Es ist unser halbkünstlicher Traum, in den wir sie hineinversetzen.
IG: Aber mir scheint, sie haben gut darauf reagiert. Möchten sie nun nicht täglich im Schlaraffenland schwelgen?
GS&JL: Die Hühner hätten wohl nichts dagegen. Aber das könnte für sie auf die Dauer ungesund sein: zu viel Fett und Zucker! Magere Tage braucht ja auch der Mensch. Wenn die Hühner zu fett werden, legen sie keine Eier mehr.
IG: Man hat immer wieder das Gefühl, dass das Huhn allgemein als weniger intelligent wahrgenommen wird, dabei sind seine kognitiven Fähigkeiten sehr hoch. Angeblich kann es zwischen rund hundert Individuen unterscheiden. Was fasziniert euch besonders an diesem Tier?
GS&JL: Dass es direkt von den Dinosauriern abstammt, viele Eier legt, ein Federkleid hat, sich mit Sand wäscht und schneller Körner pickt als wir zählen können. Auch nach Jahren ist es immer noch faszinierend Hühner zu beobachten, weil sie uns komplett in die Gegenwart versetzen. Vögel haben ihre eigenen Hack- und Wahrnehmungsgesetze. Man kann einen bestimmten Ton singen und alle schütteln den Kopf. Sie haben keine Augenlider, um bei Sonnenschein das Auge halb zu schliessen, wie wir das tun können, sondern es ist entweder offen oder geschlossen. Wenn es dunkel wird, schlafen sie einfach ein. Sie lernen schnell und sie vergessen auch schnell. Und jedes Huhn hat seinen sehr eigenen Charakter!
IG: Das Sozialverhalten spielt wohl eine grosse Rolle im Zusammenleben der Hühner. Was also können wir von Hühnern lernen?
GS&JL: Die Hühner sind keine Lehrmeister. Aber im Sozialverhalten sind sie manchmal ein amüsanter Spiegel für uns Menschen. Sie sind ja auch nur spirituelle Wesen, die Erfahrungen eines Lebens als Huhn machen — und nicht Hühner, die spirituelle Erfahrungen machen.
IG: Da fällt mir auf, dass wir bei der Betrachtung eures Schlaraffenlandfilms auf einer Art Hühnerstange sitzen. Ein erster Schritt, um die Erfahrung eines Huhns, dieses spirituellen Wesens, ein bisschen nachempfinden zu können?
GS&JL: Genau. So merken wir, dass auch wir spirituelle Wesen sind.
IG: Das hört sich fast wie ein positiver Kreislauf an, vor allem aber klingt es nach sehr viel Respekt. Da denke ich auch gleich an Arbeiten von euch, bei denen ihr Teile vom Skelett der Tiere in eure Installationen und Paradiesgärten einfliessen lasst. Lässt sich das so verstehen, dass alles miteinander verbunden ist, in einem grundlegenden Prozess von Vergehen, Neuschaffen, Fortschreiben und Wachsen?
GS&JL: Vergehen, Neuschaffen, Fortschreiten und Wachsen bedingen einander, damit sie überhaupt existieren können und sich die fantastische Vielfalt des Lebens entfaltet. Ganz im Sinne von Wabi-Sabi: Nichts bleibt, nichts ist abgeschlossen und nichts ist perfekt.
IG: Eigentlich sollten wir uns am besten alle im Leben einmal Hühner anschaffen, um in diesen Spiegel schauen zu können. Wie fängt man am besten damit an, beziehungsweise wie habt ihr mit den Hühnern angefangen? Soweit ich das beurteilen kann, sind es verschiedene Arten von Hühnern, die sich hier im Schlaraffenland bewegen? Es scheint, dass sie sich gut untereinander verstehen, und es scheint, dass sie bei guter Pflege sehr alt werden können.
GS&JL: Wir übernahmen zwanzig Hühner aufs Mal von unseren türkischen Nachbarn, die Grosseltern geworden waren und keine Zeit mehr für ihre Hühner hatten. Über Hühner wussten wir gar nichts. Aber die Aufmerksamkeit lehrte uns während der letzten Jahre sehr viel. Die Hühner kennen die Regeln, zum Beispiel ist der Gemüsegarten tabu. Abhauen ist okay, solange sie sich nicht fressen lassen. Unsere ältesten Hühner sind nun fünf Jahre alt. Ihre Eier werden weniger, aber grösser. Eine Frau aus dem Dorf erzählte, dass sie ein Huhn hatte, das zwölf Jahre alt war und dann einfach tot von der Stange fiel. Gockel hat man ja meistens zu viele. Bevor sie sich die Köpfe blutig hacken, landen sie im Rotwein. Alte gesunde Hühner essen wir im Winter als Suppe. Alte kranke Hühner pflegen wir. Nach spätestens zwei Wochen sterben sie meistens und kriegen ein Grab unter dem Holunderstrauch. Uns gefallen natürlich all die verschiedenen Sorten, die es gibt, und die kosmopolitischen Überraschungen beim Nachwuchs!
IG: Zum Schluss noch eine generelle Frage: Ihr kreiert immer wieder fantastische Räume und Orte, ja Wunderwelten, bei denen die Besucher respektive die Besucherinnen zu Expeditionsteilnehmern werden, staunend und schmunzelnd durch die Installationen gehen, und dies an Orten, die an sich eher naturfremd sind, wie das Museum oder die Ausstellungshalle. Ihr schafft Voraussetzungen und tragt dazu bei, dass etwas an diesen (Kunst-)Orten, aber eben auch in der Natur, wachsen und gedeihen kann. Können wir alle ein bisschen besser werden, wenn wir näher an die Natur heranrücken?
GS&JL: Du kannst gar nicht an die Natur heranrücken, du bist sie. Sie steckt voll in dir drin, in jeder Pore, in jeder Zelle, in jeder Bakterie, in jedem Virus, es gibt kein Entkommen!
(Das Gespräch wurde im Winter 2017 geführt.)
Die Ausstellung wurde grosszügig unterstützt durch die Partner des Kunsthaus Baselland: kulturelles.bl, Migros Kulturprozent, Gemeinde Muttenz, Anthony Vischer, prolog.work, werner sutter AG, burckhardt partner.