Kelly Tissot
23.9.
—
13.11.2022
Spurious Crops
Seit 2016 arbeitet Kelly Tissot (*1995) an fotografischen Serien, die grundlegend mit einem romantischen Landschaftsbild respektive der Vorstellung, die wir davon haben, brechen. Die französische Künstlerin blickt auf Widersprüchlichkeiten zwischen Kulturellem und Natürlichem, Häuslichkeit und Wildnis sowie Abgeschiedenheit und Gemeinschaft. Begleitet von skulptural-raumgreifenden und zugleich raumdefinierenden Strukturen, die unseren gewohnten Blick auf die Fotografie irritieren, schwingt nicht selten etwas Beunruhigendes im Werk der Künstlerin mit. Menschen sind in ihren Fotografien und Raumkörpern allein durch die Massstäblichkeit sowie durch Spuren der Zivilisation präsent – durch das, was diese alltäglich gebrauchen, zähmen oder zu kontrollieren versuchen. Kelly Tissot überträgt all jene Motive in ein sich stets erweiterndes Bilderarchiv, das eine symbolische Identität der Provinz offenbart. Mit neu realisierten Arbeiten für ihre erste umfassende institutionelle Einzelausstellung im Kunsthaus Baselland nutzt die Künstlerin bislang unbekannte Narrative und befragt unsere eigene Beziehung zum Ländlichen.
Rostende Eisenträger, um die vereinzelt Gräser
wachsen, stillgelegte Maschinen und Motorräder
oder ein an Ketten geleinter Wachhund – all das
sind Motive, die Kelly Tissot (*1995 Annecy, FR) für ihre Fotografien wählt. Sie nimmt das in den
Blick, was Menschen täglich gebrauchen, zähmen
oder zu kontrollieren versuchen, und präsentiert
Material, welches wir in tiefe Landschaften
hineintragen, Geräte und Maschinen, mit denen wir
die Natur bearbeiten oder uns in ihr fortbewegen.
Die Werke der Künstlerin charakterisieren einen
gesellschaftlichen, soziologischen Raum, der
zahlreiche Schichtungen und Reibungen in sich
birgt. Wo Kultur auf Natur, Häuslichkeit auf Wildnis
und Gemeinschaft auf Abgeschiedenheit trifft,
beginnt ihre künstlerische Auseinandersetzung, die
sich seit 2016 in einem fortlaufenden Bilderarchiv
weiterschreibt, das mit einer romantischen
Vorstellung vom Ländlichen bricht.
Im Kunsthaus Baselland beginnt Kelly Tissot mit
einer Struktur, die an einen Zaun oder eine Barriere
erinnert: eine massive Skulptur aus Metall und Holz. Sie markiert einerseits eine Grenze zwischen
Aussenraum und Kunstraum, andererseits – und das ist an dieser Stelle bezeichnender – leitet sie die Besuchenden in einen Parcours, bestehend aus einem Vokabular von Formen und Bildern, das
sich typisch ländlichen Codes bedient. So kühl und
reduziert das Material und die Assoziationen im
ersten Moment sein mögen, eröffnet die Skulptur auf
der gegenüberliegenden Seite eine Leerstelle, einen
Freiraum, der uns schon bei den ersten Schritten
bewusst in die Auslageordnung eintreten lässt. Wir
sind zur Bewegung aufgefordert, um an alles, was
dahinter liegt, näher herantreten zu können. Mehrere
dieser Strukturen unterbrechen beim weiteren Gang durch die Ausstellung das uneingeschränkte
Überblicken des Raumes und unterteilen die
weitläufige Ausstellungshalle in neue Zonen.
Dass mit den Arbeiten der Künstlerin eine Weitsicht
stets gestört oder gar verweigert wird, zieht sich von den Skulpturen bis hin zu den eigens für die
Ausstellung neu entstandenen grossformatigen
Prints. In einem französischen Freizeitpark sind jene
Fotografien aufgenommen, die Details ausrangierter
Vogelscheuchen zeigen. Figuren, die auf dem Feld
dem Abschrecken von Vögeln dienen, werden
dort selbst als Objekt ausgestellt und in einer
künstlichen Dorfsituation arrangiert. Kelly Tissot
dokumentiert einzelne von ihnen mit einer analogen
Kamera. Doch Dokumentation genügt der Künstlerin
nicht. Sie transformiert die Aufnahmen in einem
weiteren Schritt in digitale Bilder, lässt aus, hebt
hervor, zoomt heran, verändert Kontraste. In einer
überdimensionalen Grösse präsentiert, wirken die
Aufnahmen des stereotypen Symbols der
Land(wirt)schaft desillusionierend und irritierend. Die weichen und leicht unförmigen Körper der
errichteten und ausstaffierten Figuren versuchen ein menschliches Aussehen zu imitieren, und doch
verraten sie die Trägheit ihrer Gestalt, die aufgenähten
Flicken sowie das unter der Kleidung hervordringende
Stroh. Innen wie aussen, alles an ihnen ist unecht.
Sie haben längst ihre ursprüngliche Funktion als
Stellvertreter des Landwirts respektive der Landwirtin
aufgegeben.
Innerhalb der Fotografien fehlt jegliche räumliche
Orientierung wie beispielsweise ein Horizont. Die
überlappenden und aneinandergenähten Stoffe und Textilien füllen den gesamten Bildraum, der
von Spuren der analogen Fototechnik und einer
Naht des Kunstleders, das als Trägermaterials dient,
unterbrochen wird.
Dieses beinahe einengende Gefühl wird im Annex
des Kunsthauses, der die architektonische Form eines
langen, schmalen Gangs aufweist, durch die Wahl der Bildausschnitte noch verstärkt. In Kombination mit zwei freistehenden Skulpturen erreicht die Enge
hier ihren Höhepunkt. Die Architektur lässt nicht viel
Raum, um von den Werken zurückzutreten, fordert
eine nahe Rezeption und bewegt schliesslich zur
Umkehr. Einzig der gebrochen weisse Rahmen, der
alle Drucke umgibt, löst die Verdichtung, die sich
innerhalb des Bildes konzentriert, auf und erlaubt es ihnen, sich in den Raum hinein auszubreiten. Die
einzelnen Aufnahmen der Serie verschmelzen – auch
da sie teilweise wie auf einem Film miteinander
verbunden sind – und offenbaren eine symbolische
Identität der Provinz.
Spurious Crops, der Titel der Ausstellung, beinhaltet
sicherlich die Brüchigkeit eines utopischen Klischees,
welches mit ländlichen Umgebungen verbunden war oder ist. Vielmehr jedoch verweist er auf die
trügerische Intention der abgebildeten Gestalten.
Im Verbund mit den Skulpturen porträtiert Kelly Tissot
einen engen und verworrenen, vielschichtigen und auch absurden Raum, in dem ein Gefühl der
Beunruhigung mitschwingt und nicht zuletzt etwas
Zwiegespaltenes aufkommt – zwischen Zugehörigkeit
und Exklusion, Spielerischem und Furchterregendem. (Ines Tondar)
Ein grosses Dankeschön an: Ambassade de France
en Suisse et au Liechtenstein, Hans und Renée
Müller-Meylan Stiftung, Ernst und Olga Gubler-
Hablützel Stiftung, Abteilung Kultur Basel-Stadt und
an das Team des Kunsthaus Baselland, namentlich
Martina Stähli, Salome Tramèr, Meret Glausen,
Oliver Minder, Finn Curry, Paula Santomé,
Yasmin Emmenegger, Mariejon de Jong-Buijs, Pia Dobrowiz, Anouk Urben, Sergio Rojas Chaves
und Katharina Anna Wieser sowie speziell für diese
Ausstellung an Ivan Mitrovic, Osama Alrayyan,
Mathieu Dafflon, Victoria Holdt, Nicolas Sarmiento, Pauline Coquart,
Damien Juillard, Lorenzo Bernet von suns.work und
Stephan Töngi von Prototyp Metallbau Leichtbau.
Die Ausstellung wird begleitet von der ersten
Publikation der Künstlerin, für dessen Gestaltung wir
herzlich Sylvan Lanz und Rebekka Hausmann danken
möchten, sowie für die Beiträge Yann Chateigné
Tytelman, Ines Goldbach und Tristan Lavoyer.