Sun Xun
19.9.
—
14.11.2010
The Soul of Time
Zu den aufstrebendsten Künstlern einer jüngeren chinesischen Künstlergeneration zählt Sun Xun (*1980 in Fuxin/Liaoning Provinz, lebt und arbeitet in Hangzhou). Er absolvierte 2005 das Studienfach Drucktechniken an der China Academy of Fine Arts in Hangzhou und entwickelte bereits während dem Studium seinen ersten animierten Film (Utopia in the Day, 2004) auf der Basis zahlreicher Einzelzeichnungen, die Bild für Bild abgefilmt wurden. Seit 2006 betreibt der Künstler ein eigenes Animationsstudio, in welchem in den letzten Jahren Zeichnungen und filmische Animationen entstanden. Sun Xun kann auf Screenings an internationalen Filmfestivals verweisen (25. Torino Film Festival, 8. Seoul International Film Festival, 53. International Short Film Festival Oberhausen, MECAL International Short Film Festival in Barcelona) ebenso wie auf institutionelle Einzelausstellungen im Drawing Center in New York, im Hammer Museum, Los Angeles und in den Galerien Max Protech, New York und ShanghArt Gallery, Shanghai. Seine Werke waren auch in Gruppenausstellungen im Astrup Fearnley Museum of Modern Art, Oslo und in zahlreichen Institutionen in China zu sehen. In seiner ersten europäischen Einzelausstellung im Kunsthaus Baselland zeigt Sun Xun neben den gezeichneten Serien Shock of Time (2006), Mythos (2006), Heroes no longer (2008) auch erstmals den Film 21 g (2010) und damit zusammenhängende Zeichnungen (2010).
Im Mittelpunkt von Sun Xuns Werk stehen eine Reihe eindrucksvoller SW-Filme, welche die Themen von Zeit und Geschichte aufgreifen und eine bewusst kritische und politische Haltung — nicht zuletzt gegenüber der Geschichte Chinas — offenlegen. In den Zeichnungen, welche sowohl die Basis der Filme bilden, als auch als eigenständiges Medium funktionieren, taucht immer wieder die Figur des Magiers auf. Der Magier, leicht erkennbar am grossen schwarzen Hut, verkörpert die Lüge, alles Regel- und Gesetzlose und die Täuschung. Sun Xun lässt den Magier sich selbst folgendermassen beschreiben: «Today, I am a magician, wearing a black high top hat and tuxedo, a professional liar! I make a living by deceiving. People are willing to buy lies from me! Lies here are mental drugs. Wegeb ab actual promise is broken once again, lies can always make it up and turn everything to be confusing yet magnificent. People are obsessed with beautiful illusions…»
Wenn Sun Xun einzelne Zeichnungen für die Filmframes verwendet und diese für das nächste Frame wieder teilweise ausradiert und neuerlich abfilmt, so wird in dieser Technik die Verwandtschaft zum Werk des südafrikanischen Künstlers William Kentridge offensichtlich. Kentridge’s Werk fand auf der Shanghai Biennale im Jahre 2000 in China grossen Anklang und wurde auch für Sun Xun zu einer wichtigen Inspirationsquelle, welche ihm erlaubte, ein eigenes Vokabular und einen persönlichen Stil für seine Erzählungen und Konzeptionen zu finden. Der Künstler verwendete für seine Malereien bald eine grosse materielle Bandbreite: Acrylfarbe, Zeichenstifte, Kreide, Wasserfarbe, Ölfarbe oder Tusche setzte er auf Bildträgern wie beispielsweise Buchseiten, Zeitungsseiten, Reispapier ein. «I can use anything to make an animation: the important thing being to find a language and a means of expression that is mine ans is unique» so der originale Wortlaut des Künstlers.
Mit dem Werk Shock of Time (2006), bestehend aus einer Serie von kleinformatigen Malereien auf unterschiedlichen Zeitungsseiten aus den 50er- und 60er-Jahren und dem gleichnamigen Film, hinterfragt der Künstler die Wahrnehmung von Geschichte, die individuell und je nach zeitlicher Distanz unterschiedlich erinnert wird und damit das Potential von einer falschen Geschichtskonstruktion bzw. einer Lüge in sich trägt. Die in Tageszeitungen abgedruckten Nachrichten aus der Regierungsära Mao Zedongs liegen für den jungen Künstler so weit zurück, dass er dessen Wichtig- und Richtigkeit nur aus der zeitlichen Distanz abwägen kann. Er verwendet diese Zeitungsberichte als Bildträger und fügt neue, darauf gemalte Geschichten hinzu, die zusammen die fragmentarische Wahrnehmung von geschichtlichen Ereignissen unterstreichen.
Auch die Arbeit Mythos (2006) steht im Zeichen der Reflexion von Geschichte und wie sie zur solchen wurde. Als neue Stilelemente in den Malereien kommen darin erstmals leuchtende Farbzonen vor. Neben der Figur des Magiers gibt es weitere begriffliche Parameter, die der Künstler im Film und in den Zeichnungen erstmals auflistet: Dazu zählen die Begriffe und Themen von Geschichte (history), geozentrische Theorie (geocentric theory), Heimat (country), historischer Idealismus (historical idealism) oder Revolution. Die in Peking lebende Kritikerin und Kuratorin Karen Smith schreibt dazu: «These words map out the parameters of the works, and the thought processes by which the artist questions political systems and socio-cultural multi-lateral relationships that are designed to preserve the illusion of nationhood but that ultimately shift around similar but irreconcilable perspectives on the world.»
In den Malereien der Serie Heroes no longer (2008) bringt Sun Xun den Begriff des Helden in Verbindung mit dem Begriff der Geschichte. Die Heldenfigur begreift er als historischen Komplex, der innerhalb des geschichtlichen Geschehens ebenso konstruiert wird, wie Geschichte selbst oder anders formuliert: Der Held ist für ihn ebenso irreal wie Geschichte. «History is Conspiracy» steht auf einem der Blätter zu lesen, Vögel picken auf einer am Boden liegenden Zeitung herum, der Magier wird durch die Illusionsmöglichkeiten eines Filmprojektors hervorgezaubert und kann jederzeit wieder verschwinden, eine alte Banknote, aus der ein Stück herausgerissen ist, wird mit der Tagesrealität eines Zeitungsausschnittes konfrontiert.
21 g, das jüngste Werk des Künstlers (2010), wird in seinem drehbuchartigen Skript wie folgt charakterisiert «History has abandoned time, and we have lost our souls …». Das Gewicht von 21 g wurde in einem Experiment des amerikanischen Arztes Duncan MacDougall von 1907 als das ‹Gewicht der Seele› ermittelt. Sun Xun setzt in diesem Werk zu einer neuerlichen Untersuchung von Geschichte, diesmal im Zusammenhang mit der Seele, an.
Text von Sabine Schaschl