Esra Ersen

19.1.  —
11.3.2007

Elsewhere

Ersen Esra E 2007 4
Esra Ersen, Hamam, 2001/2007
Ersen Esra E 2007 12
Esra Ersen, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2007
Ersen Esra E 2007 7
Esra Ersen, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2007
Ersen Esra E 2007 2
Esra Ersen, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2007
Ersen Esra E 2007 13
Esra Ersen, Ich bin Türke, bin ehrlich, bin fleissig ..., 2005/2007 (Detail)
Ersen Esra E 2007 6
Esra Ersen, Perfect/Growing Older (Dis)Gracefully, 2006/2007, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2007
Ersen Esra E 2007 9
Esra Ersen, Ich bin Türke, bin ehrlich, bin fleissig ..., 2005/2007, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2007

Das Kunsthaus Baselland stellt erstmals in der Schweiz eine umfassende Präsentation der aufstrebenden, aus der Türkei stammenden Künstlerin Esra Ersen vor. Im Mittelpunkt ihres künstlerischen Interesses stehen Fragen nach Identitätsbildung, Migration und Integration, Selbst- versus Fremdwahrnehmung sowie urbane Prozesse. In Kooperation mit O.K Linz und Frankfurter Kunstverein

Das Werk Ersens basiert auf dem empirischen und analytischen Studium sozialer Zustände geprägt von der jeweiligen Kultur, Mythen, Ritualen und wirtschaftlichen Verhältnissen. Die Künstlerin reagiert oft auf — bzw. nutzt den spezifischen Ort ihrer Tätigkeit, um ihren Untersuchungen Form zu geben, sei dies als Fotografie, Video oder Installation. Auf programmatische Art und Weise analysiert sie, wie eine Gesellschaft ihre verschiedenen, charakteristischen Schichten, Spannungen und Widersprüche handhabt. Das Werk Ich bin Türke, bin ehrlich, bin fleissig… (2005) realisierte Esra Ersen mit SchülerInnen verschiedener Länder. Bei ihrer letzten Intervention an einer 4. Klasse in Linz trugen 21 SchülerInnen türkische Schuluniformen für den Zeitraum einer Woche. Die Künstlerin begleitete dieses Projekt persönlich und druckte die schriftlich festgehaltenen Eindrücke der SchülerInnen auf die Kleidungsstücke. Die Einführung der Uniformen als Teil eines kontrollierten und bewusst politisch instrumentalisierten Systems in eine Schule löst einen Reflexionsprozess aus über die mehr oder weniger verborgenen ideologischen Implikationen und Machtstrukturen des ursprünglichen Umfelds und der neuen Situation. (Genoveva Rückert)

Die Arbeit trägt mittels Einbeziehung von Erfahrungswerten direkt Betroffener zum aktuellen Diskurs über Schuluniformen in der Schweiz bei. Das Kunsthaus Baselland realisiert während der Ausstellung zur Diskussion über das Tragen von Schuluniformen ein eigens dafür gestaltetes Vermittlungsprogramm. In Hamam (2001), einer für ein türkisches Bad im bulgarischen Plovdiv entwickelten Arbeit, unterminierte Ersen jene Erwartungshaltungen, die an sie als weibliche türkische Künstlerin gestellt wurden. Gemeinsam mit zwei jungen Frauen betrat sie zum ersten Mal ein klassisches türkisches Bad und filmte diese bei intimen Gesprächen über sexistische Vorkommnisse im Privatbereich. (Walter Seidel)

Auf der Suche nach einer Alternative zur öffentlichen Stimme, untersucht Ersen auch den Wert des Smalltalks. Sie überprüft die besondere Qualität solcher Unterhaltungen, welche irgendwo zwischen dem Persönlichen und dem Allgemeinen, dem Oeffentlichen und dem Privaten anzusiedeln sind. Für die Videoinstallation Hamam (2001) erdachte sie eine Video-Koje und stellte dem Publikum die Sicht auf einen normalerweise dem öffentlichen Blick entzogenen Raum zu Verfügung. Was als leichtfüssige Konversation zwischen den beiden jungen Frauen beginnt, endet als kritische Betrachtung des sozialen Raumes, welcher durch zwischenmenschliche Kommunikation entsteht. Es ist – in diesem Falle – ein Raum, von wo ein privater Moment überspringt in die Oeffentlichkeit, wo Intimität durchbrochen und dem unverhohlenen und neugierigen Gaffen eines indiskreten Publikums ausgesetzt ist.

Ebenso mit Klischees spielt die Arbeit Hello Where is it? (2000). Die Künstlerin verfolgt Gespräche, die während einer Autofahrt über die Brücke am Bosporus geführt werden. Die Lokalisierung des Ortes lässt sich jedoch erst festmachen, als das Auto die Schilder «Welcome to Europe» und «Welcome to Asia» passiert. Ersens Arbeitsansatz verdeutlicht sich durch die aktive Teilnahme der Künstlerin am jeweiligen Geschehen, das den an ihm beteiligten ProtagonistInnen den Raum für inhaltliche Fragestelllungen und Formulierungen überlässt. Die dadurch entstehenden Kommunikationstechniken verstärken die Aussagekraft der physischen bzw. bildlichen Darstellungen von Raum. Sie verweisen auf dessen mentale, soziale und politische Kodifizierungen, die sich vor allem im Kontext europäischer Integrationsbestreben herausbilden.

Die Videoarbeit This is the Disney World (2000) handelt von Klebstoff schnüffelnden Strassenkindern in Taksim, dem Epizentrum des Istanbuler Stadtlebens. Von ihren armen Familien verlassen, von kriminellen Gangs ausgebeutet, vom Mainstream der Medien und der Mehrheit der Bevölkerung aufgrund ihrer Verwicklung in kriminelle Handlungen zurückgewiesen, haben diese Kinder eine eigentümliche Neukartierung des Stadtzentrums vorgenommen und eine Art Parallelleben entwickelt, das Ersen aufzuspüren versucht. (Erden Kosova)

In ihrer neuesten Videoarbeit Perfect/Growing Older (Dis)Gracefully (2006) interessierten Ersen urbane Prozesse und ihre Auswirkungen auf das Individuum. Die Künstlerin reagiert auf den radikalen Veränderungsprozess, welcher zur Zeit in Liverpool spürbar wird, und von seinem Einfluss auf die BewohnerInnen. Von der Erneuerung verspricht man sich eine frische Identität für die Stadt im Wettlauf um den Titel Kulturhauptstadt Europas. Perfect ist eine kritische Untersuchung universaler Erneuerungsprozesse, bei welchen Veränderungen sich typischerweise nicht organisch entwickeln, sondern vielmehr von politischen Entscheidungsträgern, kaum jedoch von der lokalen Bevölkerung, angeordnet werden. Wie ein Stadtplaner transferierte Ersen diese Methoden auf eine in Liverpool ansässige Person und dokumentiert die Verwandlung einer langjährigen Stadtbewohnerin. Anhand jener Erneuerung provoziert Ersen generelle Fragen zu urbanen Eingriffen. Die Arbeit deckt die inhärenten Widersprüche innerhalb einer sichtbaren Verjüngung auf und wirkt als Metapher jenes Prozesses. Wie bei jeder Generalüberholung erneuert sich lediglich die Fassade: Die inneren Strukturen bleiben dieselben.

Kurator*in: Sabine Schaschl