Anne-Lise Coste

Poem Police

8.4. —
17.7.2022

2022 KHBL ALC 1
Anne-Lise Coste, Chains I (black), 2022. Courtesy Galerie Elisabeth & Reinhard Hauff, Ellen de Bruijne, NoguerasBlanchard, Lullin + Ferrari, CAN Christina Androulidaki Gallery Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2022. Foto: Gina Folly
2022 KHBL ALC 2
Anne-Lise Coste, AM, 2022; POÈME, 2022. Courtesy Galerie Elisabeth & Reinhard Hauff, Ellen de Bruijne, NoguerasBlanchard, Lullin + Ferrari, CAN Christina Androulidaki Gallery Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2022. Foto: Gina Folly
2022 KHBL ALC 4
Anne-Lise Coste, Lithography, 2021. Courtesy the artist. Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2022. Foto: Gina Folly
2022 KHBL ALC 3
Anne-Lise Coste, POLICE, 2022; AM, 2022. Courtesy Galerie Elisabeth & Reinhard Hauff, Ellen de Bruijne, NoguerasBlanchard, Lullin + Ferrari, CAN Christina Androulidaki Gallery Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2022. Foto: Gina Folly

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Anne-Lise Coste (*1973 in Marignane bei Marseille, lebt und arbeitet u.a. in Sète) beschäftigt sich seit Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn mit dem Medium der Malerei (z.B. bei ihren Sprühbildern als einer politischen, gesellschaftlich relevanten Einheit. Durch die Verwendung von Text/Sprache, Farben und Linien auf klassischen Leinwänden oder auf gebrauchten, ausrangierten, übrig gebliebenen Materialien (Plastiktüten, Verpackungen, Holzteile, Plexiglas, Reifen oder Textilien) ist die Malerei für die Künstlerin ein Medium, um diesen Gegenständen eine aktive Kraft und eine neue Lesart zu verleihen.

In ihrer umfassenden Ausstellung für das Kunsthaus Baselland konzentriert sich Coste auf zentrale Fragen ihres Schaffens und wirft einen genauen Blick auf unsere Gesellschaft heute mit all ihren Brüchen und ihrer Doppelmoral. Zugleich erkundet sie die Möglichkeiten, aus jeglichen Zwängen herauszutreten und dadurch eine neue Freiheit zu erlangen.

Es sind nur noch wenige Wochen bis zur Ausstellungseröffnung von Anne-Lise Coste im Kunsthaus Baselland. Wir beide, Anne-Lise und ich, haben eine ungefähre Vorstellung von dem, wie die Ausstellung werden könnte, ein verdichteter Parcours, ja. Und doch ist vieles offen – und das ist gut so. Denn mit Anne-Lise Coste verfolgt man keinen festgelegten Plan, kein festgelegtes Konzept. Man versteht ihr Werk, ihre künstlerische Handlung nur, wenn man sich mit ihr auf das Gegenwärtige einlässt, in all seinen Facetten, Brüchen und Fragen. Anne-Lise Costes Werk entsteht im Hier und Jetzt.

Sie selbst agiert ebenso. An jedem Ort, an dem sie sich für eine kürzere oder längere Zeit aufhält und lebt, ist sie nicht Gast, sondern stets pulsierende Akteurin – bringt sich ein, verbindet, führt zusammen. Und sie legt zugleich den Finger in die Wunde, auf die es zu blicken gilt. Bereits während ihres Masterstudiums an der Zürcher Hochschule für Künste war Coste, die gerade erst aus Marseille kam, in Zürich fest eingebunden, wurde zur grossen Gruppenausstellung Freie Sicht aufs Mittelmeer von Bice Curiger eingeladen, agierte in der Szene und – last but not least – brachte sich auch sozial aktiv und integrativ ein. Für ihre erste Einzelausstellung 1999 im Kleinen Helmhaus Zürich zog sie gleich mit der Ausstellung in den Kunstraum ein, arbeitete vor Ort, malte, sprayte und war vor allem anwesend, rund um die Uhr, um mit Besucherinnen und Besuchern bei einem Kaffee ins Gespräch zu kommen. Kunst und gerade auch das künstlerische Arbeiten selbst sind für Coste untrennbar mit dem direkten Austausch mit der Welt verbunden.

Es verwundert daher kaum, dass Kunstschaffende in Sète, ihrem aktuellen Wohnort seit rund einem Jahr, davon schwärmen, wie Anne-Lise Coste gerade in den langen Monaten der Pandemie für das kulturelle Schaffen der Region, aber auch die Stadt selbst, deren Familien und Kinder wöchentliche Ausstellungen, Parties und Workshops im Freien realisierte. Sie aktivierte Communities, baute solche auf und führte zusammen. Doch auch wenn sie es vermag, mit ihrem Werk und vor allem ihrer Person eine breite Öffentlichkeit über Generationen hinweg anzusprechen, ist ihre Kunst alles andere als verspielt. Im Gegenteil! Coste bricht mit ihren Arbeiten jedes Mal mit einer politischen Schlagkraft in den öffentlichen oder institutionellen Raum auf, die kein Pardon kennt.

Denn das ist es, was Anne-Lise Coste und ihr Werk ausmachen – eine nahezu aktivistische, vor allem aber unverstellte und direkte künstlerische Praxis, die die Gesellschaft in ihrem Innersten zu erkennen scheint und die zugleich auch auf das Verdeckte achtet. Denn ob und wie eine Gesellschaft funktioniert, lässt sich vor allem an ihren Rändern erfahren. So tauchen denn in Costes Arbeiten auf Papier, Leinwandtuch oder Wandstücken Wörter und Satzfragmente auf, die sich an Bahntrassen, Kundgebungen, Unterführungen oder Häuserwänden von Vororten finden könnten – und das nicht nur in Frankreich: POLICE, NON, IMAGINE, POEM … Wörter im öffentlichen Raum, deren Autorenschaft Gefahr bedeuten würde. Coste eignet sich diese Wörter und Wutfetzen an, nimmt sie auf und zugleich ernst; sagen sie doch in ihrer Ungefiltertheit oft mehr aus über den aktuellen Stand einer Nation.

Ihre Technik geht dabei mit dem Inhalt einher. Nicht von ungefähr wählt Anne-Lise Coste seit einigen Jahren für ihre Malerei Airbrush oder auch Spraydosen, mit denen sie diverse Untergründe bearbeitet. Von der klassischen Leinwand über Matratzen, Plastiktüten, Reifen bis hin zu Kleidungstücken usw. – all dies wird zu Trägern von Zeichen, Wörtern, Spuren. Es sind alltägliche Gegenstände, die zugleich mit uns als Menschen und unserem Tun aufs Engste verbunden sind. Jacken, Kleider, Hemden – das menschliche Mass ist bei der Künstlerin anwesend.

Zugleich hat Coste mit dem Mittel der Spray-Paintings für sich ein Instrument gefunden, das ihrer Direktheit und ihrem Wirken, dem Aufgreifen und Kommentieren äusserst zuträglich ist. Wie liesse es sich in Sprache bringen, dass selbst in scheinbar demokratischen, auf Gleichstellung, Mitmenschlichkeit und an die Humanität appellierende Länder wie Frankreich heute, im Jahr 2022, Überwachung, Kontrollinstanz, Unterdrückung, Hierarchien, Rassismus oder Gewalt gegen Frauen alles andere als verschwunden sind.

Daher: Zurück an die Ränder der Gesellschaft, an jene feine Membran, die für die subtilen Zwischentöne offen ist, die sonst kaum Gehör finden; zurück an poröse Wände, aufberstende Böden, zerbrochene Fenster und mit aufgebrochenen Ketten versehene Türen, an Geschriebenes, Überschriebenes, an Gespraytes und Übermaltes, Gelassenes und Herausgerissenes; POLICE, PUTE, NON, MERDE.

Man muss nur während einer Zugfahrt aus dem Fenster blicken – auch hier, in der Schweiz, um all das plötzlich deutlicher zu sehen, was Coste uns gerade in ihren Werken gezeigt hat. Güterwaggons mit Graffitis, die scheinbar all die Wut und Verzweiflung einer Generation in sich tragen und damit durch die Lande fahren; dazwischen eine lange Reihe von Waggons, die Panzer geladen haben – man muss nicht in die Zeitung blicken, um in diesen Tagen, erstmals für unsere Generation, wirklich zu spüren, dass Krieg herrscht, nicht weit weg von uns, in der Ukraine. Diese Jahre der gesundheitlichen, politischen und auch gesellschaftlichen Krisen werden wir noch lange spüren.

Dazu reicht der Blick statt aus dem Fenster in mein Zugabteil – einige tragen immer noch Masken, darüber müde, erschöpfte Augen. Die junge Generation, die gerade so stark und vehement für «Fridays for Future» auf die Strassen gegangen ist, ebenso erschöpft und teilweise in dieser Krise völlig übersehen.

Doch auch das findet sich in Costes Werk und ihrem Tun – das Zarte, Sanfte, Poetische, das Schöne und Konstruktive, das wir nicht aus den Augen verlieren sollten. Es ist nicht alles schwarz-weiss – POEM, IMAGINE, Je t’aime, POÈME –, es gibt auch Farbe, Energie, Lustvolles. In aller Unfreiheit, in allen Zwängen, Ängsten und Unsicherheiten gilt es nun, wieder eine Freiheit zu erlangen, wieder auszubrechen, wieder wild und lustvoll zu sein. Es wird Zeit zu handeln und die Geschichte anders weiterzuschreiben. Dafür besteht jeden Tag die Möglichkeit. (Text von Ines Goldbach)

Im Rahmen der Ausstellung wird ein Gespräch mit der Künstlerin und Ines Goldbach veröffentlicht.

Kurator*in: Ines Goldbach