Homes. Die Mehrzahl von Zuhause
27.11.2022
—
8.1.2023
Regionale 23
Ester Alemayehu Hatle, Christine Camenisch | Johannes Vetsch, Lea Fröhlicher, Anja Ganster, Alyona Grekova, Aida Kidane, Lena Laguna Diel, Josefina Leon Ausejo, Daniela Müller, Cheyenne Oswald, Joan Pallé, Nadiia Rohozhyna, Nicolas Sarmiento, Jade Tang, Inka ter Haar
Er ist brüchiger geworden, der Begriff vom Zuhause. Längst ist das Zuhause nicht selbstverständlich der Ort, an dem man geboren ist und aufwächst, im Kreise von Freunden und Familie; in welchem die Sprache des Elternhauses auch auf den Strassen und in der Schule gesprochen wird; ein Ort, der gleichbedeutend ist mit Zugehörigkeit, Sicherheit. Oft sind es das Studium, die Arbeit, aber auch leider und immer mehr Krisen, Angst und Gefahr, die viele Menschen dazu veranlassen oder eben auch zwingen, die eigenen vier Wände oder die Heimat zurückzulassen.
Die eingeladenen Künstler*innen der diesjährigen Regionale im Kunsthaus Baselland leben und arbeiten allesamt in der Region, in Frankreich, Deutschland oder der Schweiz – doch ihre Heimat ist mehr. Sie kommen aus der Ukraine und sind vor dem Angriffskrieg Russlands nach Basel geflüchtet. Sie kommen aus verschiedenen Orten und Gegenden der Schweiz, Deutschlands, Frankreichs, Kataloniens, Perus, Argentiniens, Eritreas etc., um in der Region zu studieren, zu leben und als Künstler*in tätig zu sein. Sie haben sich mit Stipendien längere Zeiten an Orten wie Südafrika aufgehalten, um dort zu arbeiten und das Land zu erfahren. Die Region, in der wir uns befinden, die als Dreiländereck bezeichnet wird, vereint viel mehr als drei Länder, denn die Menschen, die für kürzere oder längere Zeit hier leben und uns bereichern, kommen aus der ganzen Welt – freiwillig oder aus politischen Gründen.
Was heisst heute Heimat, da viele von uns, in neue Orte oder Länder aufgebrochen sind, um ein neues Zuhause zu schaffen? Warum benutzen wir das Wort Heimaten so selten, wenn es doch das ist, was vielen von uns entsprechen würde. So zeigt die Ausstellung gerade auch diesen Umstand unseres Hier und Jetzt auf; sie thematisiert auf unterschiedliche Weise genau jene Vorstellungen oder Konstrukte von Orten des Zusammenlebens, der Herkunft, des temporären Aufenthalts, der emotionalen Bindung – zugleich aber auch jene, die sie aus unterschiedlichen Gründen hinter sich lassen mussten und auf die sie nun zurückblicken. Auch sind es Momente des Unterwegsseins, freiwillig und unfreiwillig, die hier thematisiert werden. Die eingeladenen Künstler*innen stellen daher mit ihren Werken die entscheidende und zugleich so dringliche Frage, die es heute zu klären gilt: Wie wollen wir in Zukunft leben, wie die Zukunft gemeinsam gestalten? Und nicht zuletzt: Was braucht es, damit wir einen Wandel hervorrufen können – in Gesellschaft, Kultur, Politik, Natur –, um in aller Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit voller Respekt und Offenheit zusammenleben zu können? (Text von Ines Goldbach)
Die Regionale ist eine jährliche Gruppenausstellung, entwickelt im Kontext einer grenzüberschreitenden Kooperation von 18 Institutionen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz mit dem Fokus auf lokale, zeitgenössische Kunstproduktion in der Drei-Länder-Region um Basel.
Negativformen von Hausecken, Türrahmen, Fenstersimsen und Treppenstufen hängen an den weissen Wänden; einer Haut nicht unähnlich. An den Abdrücken und Abzügen kleben hier und da noch Überreste der Gebäudewände, die Ester Alemayehu Hatle im Gips und Papier überträgt: Abblätternde Farbeschichten, Staub, Pflanzenreste. Erinnerungen an Gebäude, die bereits abgerissen wurden oder kurz davor stehen. Erinnerungen auch an Geschichte und Geschichten. Sie waren einst ein Zuhause für ihre Bewohner*innen, ein Rückzugsort, an dem sie sich geborgen fühlten, lebten, liebten, stritten und sich wieder vertrugen. Ein Ort, an den vielerlei Erinnerungen geknüpft sind, gute wie schlechte. Das eigene Zuhause verlassen zu müssen, kann sehr schwer sein, vor allem, wenn man es dem Abriss überlassen muss. Man möchte die Zeit einfrieren, die Erinnerungen konservieren und das Gefühl mitnehmen, das einem dieses Zuhause vermittelt hat.
Ester Hatle hat unterschiedliche Gebäude in Basel aufgesucht, deren Abriss oder Veränderung sie erinnern möchte und hat deren letzten Moment, den letzten Moment kurz vor der Zerstörung in ihren Gips- und Papierabdrücken festgehalten. Sie interessiert sich für das, was durch Abrisse und damit dem Verschwinden von Gewesenem verloren geht: Materialien, Erinnerungen, Emotionen. Für die Verdrängung der Mieter*innen durch Renovierungen, neue Überbauungen und den Verlust von Erinnerungsorten in der Stadt. Oft halten einen auch die einst verwendeten Materialien in einem Haus vor einer Wiedernutzung zurück. Was abgerissen wird, ist unwiederbringlich verloren. Hatle setzt Erinnerung, Denkmal und fragmentierte Schönheit dagegen.
Ganz langsam bewegt sich die Kamera und mit ihr unser Blick. Die Projektionen des Künstlerduos Christine Camenisch und Johannes Vetsch nutzen das Medium Video als bewegtes Licht im Raum. Selten geht es um eine Narration. Der Fokus liegt auf der Dekonstruktion des Raumes und darauf, neue Räume entstehen zu lassen. Die Installation ist beständig und flüchtig in einem: Der Ausstellungsraum, konkret und sicher, wird durch die Projektion auf einmal vergänglich und temporär. Die Raumlinien als sichere Elemente im Raum scheinen überblendet. Der Ort und die Projektion verbinden sich zu einer physisch spürbaren Situation, die von den Betrachtenden betreten und als ein Gefühl des Eingeengtseins erfahren werden kann. Dunkle, starre Balken, die an Gitterstäbe erinnern, lassen einen Raum im Raum entstehen. Einen Käfig, durch den wir die Aussenwelt zwar sehen, aber nicht in sie eintreten können. Zugleich scheint das Dahinter, das Draussen nur wenig verlockend: ein menschenleeres Fabrikareal in Düsseldorf, aufgenommen während des Lockdowns. Alle Fenster und Tore sind geschlossen, Baustellen stehen still, der Himmel ist mit Wolken verhangen. Die Kamera beschreibt eine Drehung in Zeitlupe, ein Schwenk um 360 Grad. In grosser Langsamkeit lässt sie uns um uns selbst kreisen. Beinahe möchte man vorspulen, um zu sehen, ob nicht doch irgendwo eine Tür aufgeht, ein Auto vorbeifährt, eine Person aus einem Gebäude tritt. Doch nichts rührt sich. Das Gefühl, eingesperrt zu sein, das uns so seltsam vertraut geworden ist, wird von Camenisch | Vetsch wieder heraufbeschworen. Die Arbeit ist eine Erinnerung an die Zeit, in der wir nicht gehen konnten, wohin wir wollten – und zugleich eine Aufforderung, die wiedergewonnene Freiheit zu schätzen.
Bilder einer Baustelle: am Kran schwebende Lasten, ein vorbeifahrender Betonmischer, ein riesiges Loch in der Erde, ausgehoben, um Platz zu schaffen für einen Neubau. Auf dem Nachbarsgrundstück, im Garten eines Hauses, von dem nur noch Ruinen übrig sind, bewässert eine Frau den spärlich bewachsenen Garten. Sie lebt auf dem Grundstück neben der Baustelle, auf dem einst ihr Haus gestanden hat. Gewohnt wird in einem Wohnwagen. «Wenn ich wüsste, dass ich lange hier bleibe, würde ich alles viel besser ausstatten», sagt sie. «Die Wände, die Fenster ...». Wände und Fenster sind keine zu sehen, sie werden von Plastikplanen und Decken ersetzt. Der Film Yerevan for the Time Being von Lea Fröhlicher porträtiert alle, deren Leben durch die Baustelle verbunden sind, durch Zerstörung, Aufbau, Zerfall, Wiederaufbau: Da ist etwa der Architekt, der dem Viertel etwas Gutes tun und es wieder aufleben lassen möchte; die Bauarbeiter, fast alle irgendwie miteinander verwandt, die vom Land in die Stadt kommen, weil es hier Arbeit gibt; die Nachbarn, deren Wohnzimmerwand zwei Meter von der Grube der Baustelle entfernt ist und die nachts vom Lärm des wegbröckelnden Mauerwerks aufwachen; den Bauleiter, der von der Idee des Projekts überzeugt und stolz auf seine Arbeit ist; der Chorleiter, der mit grossem Bedauern die ehemaligen Proberäume seines Kinderchors einstürzen sieht.
Die Videoarbeiten von Lea Fröhlicher erzählen Geschichten aus dem Leben – fein, poetisch, dem Leben mit seinen Unwägbarkeiten trotzend. Einfühlsam und vorsichtig setzt sie Menschen und ihre Geschichten in den Mittelpunkt ihrer Aufnahmen. So auch im Film Yerevan for the Time Being, der mit viel Ruhe die Träume, Wünsche und Ängste der Menschen rund um die Baustelle in Armenien ertastet und porträtiert – Yerevan könnte vielerorts sein.
Menschenleere Räume fliessen ineinander, offene Türen laden uns ein, hindurchzugehen, die Zwischenräume zwischen den Räumen zu erkunden und uns zu verlieren. Die Grenzen zwischen Innen und Aussen lösen sich auf, die Vielschichtigkeit aus Spiegelungen und Durchsichtigkeiten umfängt uns. Es scheint, als hätte Anja Ganster Erinnerungen aus unseren Träumen auf der Leinwand eingefangen.
Die Frage, wo auf der Welt sich der gemalte Raum befindet, wird unwichtig. Er könnte überall sein, aber vor allem ist er in uns. Als Betrachter*innen sind wir gleichzeitig die Akteur*innen, die auf den Malereien als Motive abwesend sind. Die gemalten Orte werden zu Identifikationsräumen, die bei uns unterschiedliche Erinnerungen, Emotionen und Stimmungen auslösen können. Die Anonymität in den Räumen von Anja Ganster öffnet das Bild für die Betrachter*innen. Die Bilder sollen keine bestimmten Reaktionen oder Gefühle evozieren. Die Offenheit der Malereien ist ein Angebot der Künstlerin an uns, und sie macht die Räume zu Erfahrungen, die wir teilen können.
Der offene Geist der Künstlerin wird in ihren Werken beinahe physisch spürbar; ebenso ihre Lust am Reisen, ihr Fernweh und die Notwendigkeit, immer in Bewegung zu bleiben und neue Zustände zu erschaffen oder zu provozieren. Denn nichts ist konstant. Sogar das Licht, welches für die Malerei eine so grundlegende Rolle spielt, verändert sich ständig, weil die Erde um die Sonne kreist. Und wir mit ihr.
Um den Daheimgebliebenen vom Urlaub zu erzählen, mit ihnen die Erlebnisse zu teilen, vom schönen Wetter, guten Essen oder auch glücklichen Momenten zu berichten, verschicken wir Postkarten. Die Motive zumeist: imposante Gebäude, Wahrzeichen oder Landschaften mit schönen Aussichten. Die Postkarten von Alyona Grekova jedoch vermitteln ein anderes Gefühl. Die in Kiew lebende Künstlerin floh Anfang 2022 vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine nach Basel, wo sie ihr Kunststudium an der Hochschule für Gestaltung und Kunst weiterführen kann. Und: wo sie in Sicherheit leben kann, weit entfernt jedoch von Heimat und Familien. Die Daheimgebliebenen leben derweil noch immer im seit vielen Monaten tobenden Krieg und sind mit dessen Folgen konfrontiert, während sie selbst in Sicherheit ist.
Die Motive ihrer Postkarten sind Objekte in den Farben der ukrainischen Flagge – blau und gelb. Fotografiert wurden sie in Basel, als Teil eines Prozesses, in dem die Künstlerin die Stadt als neue, temporäre Heimat erkundete, sich mit ihr vertraut machte und diese Begegnungen in Bildern festhielt. Einmal entdeckt, schien die Stadt voll mit gelb-blauen Objekten, mit diesem Echo der Heimat, welches nun im Postkartenformat verschickt werden kann – als Aufruf für Empathie und Solidarität sowie als Zeichen dafür, dass wir jene, die nicht bei uns sind, nicht vergessen. Die Postkarten im Kunsthaus Baselland sind daher nicht nur Objekt, sondern können gegen eine Spende erworben werden. Der Erlös geht an freiwillige Helfer*innen in der Ukraine, mit denen die Künstlerin direkt in Kontakt steht.
Wie aber lebt man selbst, weit weg von Heimat und Familie?
Ebenfalls ein Echo, eine Erinnerung an einen Traum, ist die zweite Arbeit von Alyona Grekova in der Ausstellung. Eine zierliche silberne Figur aus Zinn, gleich einer Fee, die auf einer Schaukel auf einem Kastanienblatt sitzt. Das Blatt steht symbolisch für Kiew, die auch «Stadt der Kastanienbäume» genannt wird. Das Material Zinn erinnert an Zinnsoldaten. So wird die Fee vom Traum zur Verteidigerin der guten Träume. Sie erschien der Künstlerin in ihren Kinderträumen bis zu ihrem 15. Lebensjahr. Seit der ersten Mobilmachung russischer Truppen im März 2021 hatte die Künstlerin mit Alpträumen zu kämpfen, die nun im Kriegsgeschehen ihre nahtlose Fortsetzung finden. Um diesem Schrecken etwas entgegenzuhalten, liess Grekova einen guten Traum wahr werden: Sie erweckte mit der Fee jene Figur zum Leben, die ihr in der Kindheit Schutz und Geborgenheit vermittelt hat. Denn Heimat ist auch ein Ort, der uns mit Geschichten und guten Erinnerungen umfängt.
Was kommt zuerst beim Hausbau? Das Dach oder die Wände? Ist die richtige Reihenfolge immer sinnfällig? Und ist diese in jedem Land gleich? Das Wissen darüber scheint uns abhanden gekommen zu sein. Ob die Nachbar*innen etwas darüber wissen? Ratlosigkeit zieht sich durch das gesamte Gedicht, das von der 14-jährigen Cousine der Künstlerin Aida Kidane gelesen wird. In der Ein-Kanal-Videoprojektion wird der Text erst durch ihre Stimme zu einem zarten Raumklang, der sich durch die Architektur des Kunsthauses windet. Die Erzählerinnen – oder soll man besser sagen: die Protagonist*innen – sind im Verlauf der Erzählung auf der Suche nach der richtigen Reihenfolge, in welcher ein Haus entsteht. Fast meint man, ein Streit würde entstehen über eine Tatsache, die im Verlauf so klar nicht mehr zu sein scheint.
Auf der einen Seite des Raumes ist die Videoprojektion mit dem animierten Text zu sehen, begleitet von der Stimme des Mädchens mit kanadischem Akzent. Im gleichen Raum breitet sich im kontrastreichen Schwarz-Weiss eine Wandarbeit aus. Ein Forschungsprojekt der Künstlerin und zugleich auf das Engste verbunden mit ihrer Herkunft und Heimat: Casa M. Ein Haus innerhalb der Stadt Asmara, einst unter italienischer Besatzung und heute UNESCO-Kulturerbe. Ein Haus in einem Kontext, das vieles auf den Kopf gestellt hat. Was also kommt zuerst, wenn man ein Haus baut? Das Dach oder die Wände? Am Ende scheint einem die Antwort auf diese Frage gar nicht mehr so offensichtlich.
Ein Raum, zwei Stühle, zwei Personen. Eine scheinbar simple Situation. Doch die Malereien von Lena Laguna Diel sind alles andere als einfältig. Allein die Aufteilung bringt uns aus dem Trott, und es scheint, als würde sich das Gemälde vor unseren Augen neu ordnen. Als würden sich die Leinwände und Farbflächen beständig neu gruppieren, je nachdem, auf welches Bildelement wir uns gerade konzentrieren. Das Bild besteht aus zwei Leinwänden, die wiederum in mehrere Farbflächen geteilt sind. Die Farbflächen erstrecken sich über die Grenzen der Leinwände, ebenso wie die Motive sich über die Grenzen der Farbflächen und Leinwände hinwegsetzen.
Je länger wir das Bild betrachten, desto weicher und durchlässiger werden auch die Grenzen zwischen Motiv und Farbe, Gegenständlichem und Abstraktem. Denn die dargestellten Körper sind zwar klar als solche erkennbar, funktionieren jedoch genauso als reine, kräftige Farbflächen, wie der Raum, der sie umgibt.
Der Umgang mit Motiv und Farbe, das Verschmelzen dieser beiden Elemente, zeigt sich auch in Diels Arbeitsprozess. Das Suchen nach und das Finden von Farben sind genauso wichtig wie das Motiv selbst. Denn durch die Komposition und das Abstimmen der Farben aufeinander entsteht die Atmosphäre, in der die Personen auf dem Bild interagieren. Diel studiert die Komposition und die Farben sorgfältig, legt Farbpaletten an, testet, wie die Farben sich auf der Leinwand verhalten, wie sie sich nach dem Trocknen im Ton verändern. Sie notiert, wie sie die einzelnen Farbtöne gefunden hat, und schafft so eine einzigartige Bibliothek respektive ein Inventar für ihre Farben, deren Entstehungsprozess und Zusammenspiel.
Die Arbeiten Diels zeichnen sich durch das Wechselspiel zwischen dem grossen Ganzen und der Liebe und Sorgfalt fürs Detail aus. In den Gemälden wird dies durch die Beziehung zwischen der für uns sichtbaren Malerei und den uns verborgenen Farbstudien deutlich. Durch die Gegenüberstellung der Gemälde und die neu produzierten und nun auch vermehrt im Werk der Künstlerin auftretenden Keramiken wird dieser Sprung in eine andere Massstäblichkeit greifbar. Die Intimität, die den Arbeiten innewohnt, ist in beiden Massstäben spürbar. Und mit dieser vermag Diel uns zu fesseln und uns in den Bann ihrer Arbeiten zu ziehen.
Einzelne Betonblöcke stehen im Raum, aufeinandergetürmt. Sie sehen aus wie der Beginn einer Überbauung, wie man sie verschiedentlich kennt. Man meint sie vielerorts bereits gesehen zu haben. Tatsächlich sind sie Fragmente eines bestehenden Gebäudes: eines modernen Hochhauses in Lima, Peru, dem Herkunftsland der Künstlerin. Der Turm überblickt die Stadt, mächtig und hoch, doch ist er nur ein unbewohntes Skelett. Ein nie fertiggestelltes Projekt, ein leeres Versprechen, eine Hülle dessen, war er hätte werden sollen. Josefina Leon Ausejo dekonstruiert den Turm in ihrer Heimatstadt aus der Ferne. In Basel lebend, untersucht sie das Gebäude über das Netz, betritt es online, misst es aus, studiert und skizziert es. Sie dekonstruiert es und verarbeitet die einzelnen Informationen in den Betonblöcken, die zum Sinnbild für dieses aufgegebene, vergessene Bauprojekt werden.
Die Drei-Kanal-Videoprojektion, die sich als digitale Landschaft hinter den Blöcken erhebt, gibt ihnen Panorama und Verortung zugleich: Szenen einer Autofahrt, aus dem Auto aufgenommen. Auf dieser Strecke befindet sich auch der vergessene Turm. Die Künstlerin fuhr diese Strecke oft – sie ist Teil ihrer Heimat. Sie ist mit der Landschaft vertraut, und dennoch kann sie sie, aus dem fahrenden Auto heraus, nie wirklich eingehend betrachten. Es bleibt eine Distanz zwischen den Passagieren im Auto und der vorbeiziehenden Umgebung.
Das Gefühl, etwas nur aus der Ferne erfahren zu können, wohnt beiden Arbeiten inne. Leon hat ihre Heimatstadt verlassen und ist in die Schweiz migriert. Der Abstand zur eigenen Herkunft erlaubt eine neue Art der Reflexion, eine andere Perspektive auf sich selbst und alles darum herum. Erst die Entfernung macht die Sicht auf das grosse Ganze möglich. Was dabei konstant bleibt, ist der Horizont. In der Ferne zieht er sich durch die gesamte Autofahrt, manchmal mehr, manchmal weniger sichtbar, aber immer da. Eine Konstante, auf die man sich konzentrieren kann, wenn einem während der Fahrt schwindelig wird. So schreibt auch Leon: «... When I am far, I miss it and it makes me dizzy when I don’t see it ...»
«Catapult, Cat-Call, Catfish, Caterpillar…». Eine künstlich anmutende Stimme liest Begriffe vor, die von Bildern illustriert werden. Das Wort «Cat» ist ihnen allen gemeinsam. Darauf folgen Aufnahmen von einer Katzenausstellung. Verschiedene Rassekatzen sitzen in den Armen ihrer Halter*innen, werden hochgehoben, präsentiert, begutachtet und bewertet. Die Bewertungskriterien und Punktetabellen werden von der gleichen emotionslosen Stimme runtergeleiert wie die Katzenbegriffe, die sich immer wieder zwischen die Szenen der Ausstellung schieben.
Daniela Müllers Arbeiten erzählen von der Beziehung des Menschen zur Natur und vom Bedürfnis, diese zu kontrollieren, zu domestizieren und zu optimieren. Auf subtile Weise und mit einem leichten Augenzwinkern zeigt die Künstlerin die Absurdität dieser Präsentation von Haustieren auf.
Vergleichbar damit ist die Thematik der Performance How to get a Mole out of a Garden, die im Kunsthaus als Dokumentation zu sehen ist. Die Idee dazu kommt von Online-Foren, in denen Gartenenthusiast*innen sich darüber austauschen, mit welchen Mitteln man Maulwürfe aus dem heimischen Garten vertreiben kann. Die Empfehlungen sind breit gefächert: ein Radio im Garten vergraben, Parfüm versprühen, Flaschen in die Erde stecken etc. Doch sie scheitern alle am Maulwurf selbst, der, bis auf seine Erdhügel im ansonsten makellos gepflegten Rasen, unsichtbar bleibt. Die Community von sich ansonsten fremden Hobbygärtner*innen und all die Maulwürfe, die ihren Rasen ruinieren, werden zu einem unfreiwilligen Kollektiv auf Zeit.
In der Videoarbeit the garden became a boundless wideness – episode 1 beobachten wir die Künstlerin Cheyenne Oswald, wie sie gedankenversunken einen üppigen und verwunschenen Garten erkundet. Währenddessen erzählen die Grossmutter, die Mutter und die ältere Schwester der Künstlerin, wie sie sie in ihrem Beruf wahrnehmen, was eine Künstlerin ihrer Meinung nach an sich tut und was wohl einmal aus Cheyenne Oswald und ihrer Künstlerinnenkarriere werden würde. Mit diesen Zukunftsvisionen verlassen wir im Film den Garten und die Künstlerin, die Szenerie wechselt: Wir (?) sitzen in einem Zug und beobachten einen Käfer, der aussen an der Fensterscheibe mitfährt. Das Bild der Künstlerin im Garten, die Konzentration auf sie und ihre Fähigkeiten, Talente und Hoffnungen endet in einer Zugfahrt in eine, noch ungewisse, Zukunft. Künstlerin zu sein ist eine Entscheidung, die das eigene Umfeld mal mehr, mal weniger zu verstehen vermag.
In der anderen Arbeit, die die Künstlerin anlässlich der Regionale im Kunsthaus zeigt, schlängelt sich Schrift, ähnlich einer Schneckenspur, über den Fussboden. Die halb durchsichtigen Satzfragmente der Arbeit ode to the pace of slugs – variation 2 bestehen aus Silikon. Dieses Material findet zum Beispiel beim Bau von Badezimmern zum Schliessen von Fugen Verwendung, um zu verhindern, dass Feuchtigkeit in Zwischenräume gelangt. In Oswalds Arbeit wird das elastische Material vom Lückenfüller zur Hauptsache, zu ganzen Sätzen mit eigener Aussage. Einige der Sätze stammen aus dem Buch On Connection, von Kae Tempest, das während des Lockdowns entstanden ist. Andere stammen von Oswald selbst und nehmen die Inhalte der Zitate auf. Tempests Buch handelt vom menschlichen Verlangen nach Verbindung mit anderen und wie diese durch Kreativität und Live-Kunst zustande kommt. Indem die Silikonsätze diesen Inhalt aufnehmen und wiedergeben, werden sie zu Sinnbildern dieser zwischenmenschlichen Verbindungen, die wir suchen und brauchen. Und die uns manchmal zufällig begegnen. Andererseits nahm der Lockdown das Tempo aus unserem Alltag, er verschaffte uns Zeit und die Möglichkeit, die Verbindung zu uns selbst zu intensivieren – eine Ode an die Langsamkeit und Poesie.
Eine kleine Holzhütte balanciert auf einer Stange im Raum. Ein Bild der Ruhe, aber auch der Einsamkeit und Abgeschiedenheit. Wer könnte in einer solchen Isolation leben wollen? Vor der Zivilisation geflohen, zurückgezogen an einen einsamen Ort, um sich ganz der Kreativität hinzugeben, sich von der Natur inspirieren zu lassen und ohne Ablenkung auf die Arbeit konzentrieren zu können – ein Idealbild, das in der westlichen Welt gerne mit Henry David Thoreau und seinem Buch Walden verbunden wird.
Schon seit Längerem beschäftigt sich Joan Pallé künstlerisch mit schriftstellerisch tätigen Personen, die sich, um sich und ihrer Kreativität näher zu sein, in einem scheinbaren Nirgendwo eingerichtet haben. Einer von ihnen war Gustav Mahler: Er schrieb seine Kompositionen in den drei Hütten, die als Modelle an der Wand hängen; ein weiterer war der englische Regisseur und Autor Derek Jarman, der in einem schwarzen Häuschen an der Küste von Kent lebte. Rund um das Haus legte er einen Garten an, den er liebevoll kultivierte und mit Treibgut aus dem Meer, Steinen und anderen Fundstücken schmückte. 1990 verewigte Jarman diese kleine Oase in seinem Film The Garden.
Menschen, die aus sich selbst schöpfen, um etwas in die Welt abgeben zu können, etwa indem sie Bücher, Texte oder Filme schaffen, brauchen einen Ort, an dem sie ihre Kreativität entfalten können – ungestört und in Konzentration. Dieser Ort des Rückzugs und der Isolation kann zur Voraussetzung für die eigene Kreativität werden. Dieser Widerspruch wird auch in Joan Pallés Arbeiten spürbar. Er verbindet in seinen Installationen Elemente des kritischen Denkens und der Populärkultur, macht das eine zum Sprachrohr des anderen und zeigt das absurde Gleichgewicht, das KünstlerInnen zwischen diesen beiden Welten stets halten müssen.
«Every day people of Ukraine lose something.» Mit diesem Satz beginnt der Film Tatarka von Nadiia Rohozhyna. Eine nach der anderen erscheinen Schwarz-Weiss-Aufnahmen von historischen Gebäuden in der Ukraine auf dem Bildschirm. Die leise Stimme der Künstlerin erzählt, wie diese von der russischen Armee zerstört wurden und weiterhin täglich werden. Systematisch wird nicht nur die Gegenwart des Landes vernichtet, sondern auch seine Vergangenheit, seine Kultur und Geschichte und somit seine Identifikationsgrundlage vernichtet. Ein strategischer Schachzug. Und ein unfassbarer Verlust für alle Betroffenen. Tatarka begann als ein Projekt der KünstlerInnengruppe Three practice on realism, welches Nadiia Rohozhyna zusammen mit ihrem Mann Oleksandr Gorbunov gegründet hat.
Die Künstlerin floh selbst erst vor wenigen Monaten aufgrund des Krieges in der Ukraine nach Basel. Viel musste sie zurücklassen, wagen, neu anfangen. Sie kann ihr Studium an der HGK Basel fortsetzen und lebt bei einer Gastfamilie. Nach Kriegsausbruch engagierte sie sich als freiwillige Helferin bei der Verteilung von Nahrungsmitteln. Bald wurde ihr aber klar, dass sie einen anderen Beitrag leisten möchte. Als Künstlerin sieht sie es als ihre Aufgabe, die Zerstörung der Kultur zu verhindern und zumindest in kleinen Teilen die Lücken zu füllen, die der Krieg – tagtäglich mehr – in die Vergangenheit des Landes reisst.
Vergangenheit ist etwas, das wir in uns tragen, ebenso wie die Zukunft. Sie formt uns, macht uns zu dem, was wir sind, und gibt uns Halt und Gewissheit im Hier und Jetzt. Was wir im Hier und Jetzt auch brauchen, ist Hoffnung, und die schöpfen wir aus der Zukunft. Denn obwohl sie vor uns liegt, ungelebt und ungewiss ist, vermag Zukunft genau das: uns Hoffnung zu geben, uns voranzutreiben und dem Leben einen Sinn zu geben. Trotz der schrecklichen Ereignisse, von denen die Künstlerin in ihrem Film berichtet, haben wir die Hoffnung, dass der Krieg irgendwann doch zu Ende ist und etwas Neues beginnen kann.
Der jeweils spezielle zeitliche oder auch örtliche Kontext, in dem oder für den ein Werk entsteht, spielt eine zentrale Rolle für Nicolas Sarmientos Arbeiten. Live Reduction wurde 2022 für den Swiss Art Award in der Messe Basel realisiert. Die Messehalle ist kein klassischer Ausstellungsort, sondern ein temporärer Ort mit kleinen, rasch eingebauten Kojen für die jeweiligen Künstler*innen. Ständig wechseln die Veranstaltungen, Ausrichtungen, Bedürfnisse; das Interieur des Ortes ist flexibel und lässt sich für alle Zwecke anpassen. Für Nicolas Sarmiento ist es eine Zwischenstation, ein Ort des Transits für den kurzen Zeitraum einer Woche – und ein idealer Ort, um eben dies zu thematisieren.
Sarmientos Arbeit lässt Platz für Begegnung und Reaktion. Man spürt seine Neugierde für die Umgebung, seine Offenheit für Einflüsse von aussen und die Flexibilität, die dadurch in seinen Arbeiten entsteht. Live Reduction bildet einen eigenen Raum aus und lädt dazu ein, eben diesen Raum im Raum neu zu erfahren. Eingebettet in die Installation sind zwei Videoarbeiten auf Flatscreens.
Der Film _Traffic with reality_Like a 🦆 watching architectural digest II beschäftigt sich mit YouTube-Videos, in denen Celebrities die Zuschauer*innen auf eine Tour durch ihre luxuriösen Häuser mitnehmen. Sarmiento legt einen Filter über die Aufnahmen, der die Bilder abdunkelt und die Üppigkeit, den Pomp und den Luxus dämpft. Statt mit Ton ist das Video mit Untertiteln ausgestattet.
Im Video floor mode verweben sich Aufnahmen von Wanderwegen und Landschaften in und um Lugano mit Bildern aus Basel und Baselland, und damit vom Arbeitsweg und Arbeitsort des Künstlers. Die Untertitel scheinen mal zu den Bildern zu passen, mal nicht. Sie sind ein paralleler Erzählstrang, der sich den Filmaufnahmen spielerisch nähert und sich wieder davon entfernt. Als das Werk neben anderen Arbeiten in der Messehalle installiert wurde, legte sich der Ton fremder Sound- und Videoarbeiten über die seinen. Die Tonspuren anderer Werke und die Geräusche in der Umgebung mischten sich und vertonten Sarmientos Arbeiten sozusagen für den Künstler neu.
Nicolas Sarmientos Werke sind immer neu lesbar, je nachdem was kommt, geht oder bleibt. So werden sich auch im Kunsthaus Stimmen, Töne oder auch die Bewegungen der Besucher*innen als weitere Ebenen über das Werk legen und dadurch Neues eröffnen.
Caresser l’histoire ist der Titel des Werks der in Frankreich lebenden Künstlerin Jade Tang. Im Zentrum steht die Pflanzenwelt in archäologischen Ausgrabungsstätten. Eine ganze Auslegeordnung erstreckt sich über den gesamten Raum: Weisse, erdige Stoffbahnen hängen im Raum, Reagenzgläser mit verbrannten Samen reihen sich aneinander. Die Künstlerin konzentrierte sich für dieses Werk auf drei Baustellen in Strasbourg, auf denen sich zwei spezielle Gebiete überlagerten: Stadtentwicklung und Präventivarchäologie. Beinahe täglich besuchte sie die Baustellen und kam dabei mit Wissenschaftler*innen unterschiedlichster Sparten in Kontakt:Archäologie, Karpologie (Untersuchung von Samen und Früchten) oder auch Dendrochronologie (Datierung und Herkunft von Holz). Die feinmotorischen körperlichen und zugleich hochkonzentrierten Gesten, welche Archäolog*innen bei der Arbeit ausführen, unterscheiden sich stark von den Vorgängen, die auf einer normalen städtischen Baustelle ablaufen: Beinahe zärtlich wischen die Wissenschaftler*innen immer wieder mit unterschiedlichen Pinseln über dieselbe Stelle, entfernen eine feine Sandschicht nach der anderen, um freizulegen, was sich seit Jahrhunderten darunter verbirgt. Dieser Liebkosung und zugleich dem hohen Respekt, welcher dem schon lange Vergangenen entgegengebracht wird, um Gegenwärtiges zu verstehen, verdankt das Werk seinen Titel – Caresser l’histoire, die Geschichte liebkosen. Auf der Baustelle treffen verschiedene Themenfelder, Interessen und Ziele aufeinander, denen Tang als Künstlerin eine eigene Facette hinzufügte.
Wie sehr diese Begegnungen und der Austausch von Wissen sie inspiriert und ihre Arbeit vorantreibt, wird in einer Reihe ihrer Werke deutlich. Sie versteht es, die Experimente, die unterschiedlichen Techniken und Materialien ein und dieselbe Geschichte erzählen zu lassen: Die Geschichte und Überlagerung von Vergangenheit und Gegenwart, aus denen sich auch ihre Werke und ihr künstlerisches Schaffen für die Zukunft speisen.
Drei Räume, so gross, dass sie den Ausstellungsraum einnehmen und sich wie eine Haut darüber legen. Sie sind spärlich eingerichtet: ein paar Stühle, ein Tisch. Der Raum an sich wird durch wenige Linien definiert, und bei längerem Hinsehen beginnt sich die Raumillusion aufzulösen. Der Fussboden wird zur Wand, das Fenster befindet sich an der Decke, der Raum wird zur Fläche und die Fläche zum Raum, bis jegliches Gefühl für oben und unten, links und rechts ganz schwindet. Man scheint nirgendwo mehr Halt finden zu können, ein unbehagliches Gefühl breitet sich aus. In jedem der Zimmer hängt eine nackte Glühbirne von der Decke. Oder von der Wand? Schwebt die Lampe im Raum? Die Szenerien sind in grelles Licht getaucht, jedoch kommt es nicht von den Glühbirnen. Sie scheinen die Helligkeit eher aufzusaugen als abzugeben. Auch von aussen kommt kein Licht. Durch die Fenster sieht man lediglich flimmernde Dunkelheit, der ein Weiss gegenübersteht, das zu vibrieren beginnt, je länger man es betrachtet. Die Flächen schillern in vielen verschiedenen Farbabstufungen, die an manchen Stellen eine Aura um die dargestellten Gegenstände zu formen scheinen. Bei genauerem Betrachten sind die schwarzen Konturen, welche die Stühle und Tische umranden, keine gemalten Linien, sondern zeigen die schwarze Grundierung, die Lücke zwischen den Flächen. Den Malereien liegen kleine Tuschezeichnungen zugrunde; im Prozess der Übersetzung wird die Linie der Zeichnung zur Lücke in der Malerei und die Dimensionen werden raumgreifend. Die Bilder verströmen eine wilde Kraft. Gerade durch die Entscheidung der Künstlerin Inka ter Haar, sie ohne Rahmen zu installieren, ist die Wirkung auf das Gegenüber noch direkter und unmittelbarer. Die gemalte Architektur verzahnt und verbindet sich mit der realen zu einem neuen Ganzen.
Alle Künstler*innentexte von Meret Glausen