Lena Maria Thüring
21.5.
—
10.7.2011
Kamikaze Style
Die erste institutionelle Einzelausstellung von Lena Maria Thüring (geb. 1981 in Arlesheim) trägt den Titel Kamikaze Style. Diese Slang Bezeichnung umschreibt einen medizinischen Eingriff ohne Schmerzstiller oder steht schlichtweg für etwas Wildes bzw. Extremes. Der Titel verleiht einer atmosphärischen Stimmung Ausdruck, die sich in den drei neuen Videos der Künstlerin, die im Kunsthaus Baselland erstmals gezeigt werden, wiederfindet.
Lena Maria Thüring ist bekannt für ihre Auseinandersetzung mit soziokulturellen und anthropologischen Themen. Die Reflexion über gesellschaftliche Systeme und deren Konstruktion durch Zuweisung eines bestimmten Ortes, sowie die Verbindung von Erinnerung, Geschichte und Raum spielen in ihrer Arbeit eine wichtige Rolle. Sie verortet jene Fragestellungen häufig anhand persönlicher Geschichten einzelner Menschen oder Gruppen, wobei auch das soziokulturelle Umfeld der Porträtierten eine wichtige Rolle spielt. Die Künstlerin arbeitet grundsätzlich in den Medien Fotografie, Video und Installation, wobei ihre jüngste Ausstellung auf die drei zuletzt entstandenen Video-Porträts fokussiert.
Im Mittelpunkt der neuesten Arbeiten steht die Auseinandersetzung mit einer Jugendbewegung bzw. mit Vertretern einer jungen gegenwärtigen Generation unterschiedlicher kultureller und sozialer Herkunft, die sich dennoch mit ihrem relativierenden Blick auf die Welt und ihr eigenes Leben nahe stehen. Die Künstlerin verweist auf eine Haltung, die mit jener, die den Hintergrund so genannter ‹defiant gardens› bildet, verglichen werden kann. Es ist belegt, dass in Kriegs- oder sonstigen Ausnahmesituationen Menschen sich ein kleines Stück Normalität zu erhalten versuchen, indem sie sich einen Garten bzw. ihren eigenen Erholungsort anbauen, wo die Welt noch so ist, wie sie sein soll — selbst wenn es neben dem Schützengraben ist. Die Porträtierten finden metaphorisch ausgedrückt, ihren jeweils individuellen ‹defiant gardens› inmitten ihres von Gewalt und Krisen geprägten Lebens.
Während eines Aufenthaltes in der Pariser Cité des Arts hat die Künstlerin einen palästinensischen Künstler kennengelernt, der anhand der Narben an seinen Händen über die Torheiten, die er als Jugendlicher begangen hat, erzählt. Das Video String (2011) zeigt nur die Hände und ihre Bewegungen, gekoppelt mit der Stimme des Erzählers. Nur langsam fliessen die politischen und sozialen Umstände, die er in seiner Jugend während der Zweiten Intifada erfahren hat, in seine Erzählung ein. Der Künstler, in dessen Werk gestickte Bilder eine Rolle spielen, verlässt seinen sonst aggressiven und aufgebrachten Erzählstil erst, wenn er zu sticken beginnt. Plötzlich werden seine Schilderungen ruhig und reflektiert. Er hat in der Stickerei seinen persönlichen Erholungsort gefunden. Wir erleben als Rezipient wie unser vorgefasstes Bild eines jungen palästinensischen jungen Mannes plötzlich Risse bekommt. Wir erfahren, wie schwierig es ist, die ganz normalen Probleme eines Adoleszenten mit den Problemen einer im permanenten Krieg begriffenen Gesellschaft zu vereinen. «Du denkst nicht als Einzelperson, sondern als Kollektiv», lautet eine der Begründungen für das Werfen mit Steinen, das sich als Freitagabend-Tätigkeit in seinem Alltag fest verankert hat — und dies obwohl er in der privilegierten Lage ist, im westlichen Ausland studieren zu können. Seine Schilderungen ziehen uns in den Bann und langsam finden wir Anknüpfungspunkte an eigene Erfahrungen.
Den jungen französischen Polizisten in der zweiten neuen Videoarbeit Guardien de la paix (GPX) (2011) hat die Künstlerin beim Besuch in der Cité nationale de l'histoire de l'immigration (vormals Musée de la France d'Outre-mer und Musée des Arts d'Afrique et d'Océanie) in Paris kennengelernt. Seit Eröffnung des Gebäudes befindet sich im Untergeschoss ein Aquarium bestückt mit Fischen aus allen ehemaligen französischen Kolonien, welches der Polizist in seinen freien Minuten regelmässig besucht und das sich als sein persönlicher ‹defiant gardens› präsentiert. Der Protagonist, den wir nicht sehen, sondern nur hören, erzählt von der Schwierigkeit, zwischen seinem Privatleben und seiner öffentlichen Funktion eine Balance zu finden. Auch er muss im Kollektiv der durch die Uniform verkörperten Staatlichkeit funktionieren. Auch bei ihm erfahren wir nach und nach eine persönliche Geschichte, die von der Herkunft seiner Eltern aus Guadeloupe erzählt und vom Polizistenalltag, in welchem er sich oft als «verbaler Abfalleimer der Welt» vorkommt. Vor dem Bild der Fische im Aquarium und mit seiner Wortwahl, die immer wieder auf Vergleiche mit der Tierwelt rekurriert, wirkt sein Wunsch nach Harmonie und Gewaltfreiheit direkt auf uns ein, und wir merken erst nach und nach, dass sich unser Bild eines Polizisten verändert hat.
Das dritte Video ZUP (2011) geht auf die 2007 entstandene Arbeit chez eux zurück. Lena Maria Thüring hat dafür über mehrere Monate hinweg mit Hip Hoppern aus Mulhouse Kontakte gepflegt und sich mit ihrer Identitätsbildung und den Einfluss durch Musik und Medien beschäftigt. Für die aktuelle Arbeit ist sie neuerlich mit der Gruppe in Kontakt getreten. Wir sehen Erwachsene, Adoleszente und Kinder. Ihre Kleidung greift verschiedene Modestile auf und verbindet scheinbar Unzusammengehöriges wie ein Palästinensertuch mit Burberry Jacken und Baseballkappen. In ihren Posen und Gesten wird Gefährlichkeit suggeriert, womit sie einer klischierten Aussenwahrnehmung bewusst Rechnung zollen — frei nach dem Motto «Du denkst, ich bin gefährlich, also zeige ich dir, wie gefährlich ich bin». Mit ihrer Musik finden sie ihr Stück ‹defiant garden›.
Die Videoportäts schildern Menschen, die alle auf verschiedene Art und Weise mit Gewalt konfrontiert sind, die mit den Unterschieden zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung kämpfen, sich der häufigen Unvereinbarkeit zwischen individuellen Wünschen und kollektivem Zwang bewusst sind und die gewohnt sind, zwischen dem Zulassen von Persönlichem oder dem Vorzug von Anonymität zu wählen. Der Stil der Videoarbeiten wirkt auf den ersten Blick dokumentarisch. Mit der Inszenierung des visuell Sichtbaren, das entweder auf der alleinigen Konzentration eines Details besteht, oder den Sprechenden sogar ausblendet, oder die Porträtierten aus bestimmten inszenatorischen Blickwinkel zeigt, bringt die Künstlerin auch Fiktives ein. Sie spielt dabei mit der Inszenierung von Nähe und Distanz, welche entsprechend des jeweils Porträtierten und seiner Geschichten gewählt wird. Thürings sensibler Umgang mit komplexen Themen und individuellen Erzählungen ist mittlerweile zu einem ihrer wichtigsten Kennzeichen geworden.
Text von Sabine Schaschl