Activating! Handlungsvorstellung als Werk
31.1.
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23.3.2025
Annika Kahrs, Rosalind Nashashibi, Juliette Uzor, Franz Erhard Walther, Doing Fashion HGK Basel FHNW
Ist es nur dann eine Performance, wenn sie durch einen Live-Act ausgeführt wird? Was heisst in diesem Zusammenhang «aktivieren»? Kann auch die Vorstellungskraft des Besuchenden eine Form der Aktivierung darstellen? Schliesslich gehört es zu unseren beeindruckendsten Fähigkeiten, Ereignisse zu imaginieren, die im Moment der Vorstellung weder vorhanden sind noch stattfinden. Alle eingeladenen Kunstschaffenden sprechen von eben jenem Moment der Aktivierung – sei es durch im Film und Video gezeigte Aktionen, die damit nachvollziehbar werden, sei es durch Sound, Akustik, überraschende Formen oder Textilien, die den Raum erfüllen oder gar anfüllen und zu Handlungsvorstellungen animieren.
Begleitet wird diese Gesamtauslage durch eine Reihe von Live-Performances and Live-Acts, die an unterschiedlichen Tagen während der Laufzeit der Ausstellung stattfinden, unter anderem präsentiert durch Juliette Uzor mit weiteren Performerinnen als auch durch die Graduates des Programms «Doing Fashion 2025» des Bachelor-Studiengangs Mode-Design der HGK Basel FHNW.
Doing Fashion Graduates 2025:
Isabel Ackermann, Vann Berger, Kai Breakspeare, Shawna Christen, Damara Dimcic, Till Garcia de Oteyza Arends, Aurélie Cuenot and Mardane Gaxotte as Paradigme Carré, Michaela Yue Guo, Mitja Leon Haring, Nicolas Hartmann, eileen niamh hughes, Vera Junz, Katharina Leandra Kroha, Luisa Later, Cölestina Elena Lienhard, Jane Yanie Lienhard, Billie Madrigal Cartin, Laura Nick, Maximilian Preisig, Patric Mustofa Orlando Sommer, Merve Topal, Bastian Wigger, Piero Giovanni Zeni Mina

Erstmals zeigte Annika Kahrs (*1984) das Video Le Chant des Maisons während der 16. Lyon Biennale für zeitgenössische Kunst. Die in Berlin lebende Künstlerin hatte das Werk eigens für diesen Anlass realisiert. Drehort ist die entweihte, teilweise beschädigte Kirche St. Bernhard in Lyon, die einst das Bild eines Viertel prägte, das für die Gemeinschaft verschiedener Religionen, aber auch Kulturen stand. Ein Ort, der mit seiner Geschichte jedoch auch von Widerstand, Klassenkampf und Unabhängigkeit sowie von Verlust und Vergessen erzählt. Denn mit dem damaligen Bau der Kirche hatte sich auch das Bestreben verbunden, Widerstände und Aufbegehren mit der Macht der Kirche als Institution zu beruhigen.
Es braucht einen Moment, bis man sich in das Video von Annika Kahrs eingesehen hat, um zu verstehen, was hier im Gange ist und wer auf was und wen reagiert. Denn die Videoinstallation begegnet einem zunächst mit einer akustischen und visuellen Wucht und führt in den Raum des Geschehens. Verteilt im Chor und der Vierung von St. Bernhard steht ein Jugendchor aus Musiker*innen, die in scheinbar unterschiedlichen musikalischen Sätzen und Rhythmen einen Prozess anzustossen scheinen; parallel zu den raumfüllenden Klängen bauen Zimmerleute eine schlichte, hölzerne Hausstruktur inmitten des alten Kirchenchors. Es wird gehämmert und gesägt, gebaut und errichtet, Stimmen mischen sich in die Rhythmus der Gesänge. Oder ist es der Rhythmus der Arbeitenden, der den Chor zu ihrem Takt animiert?
Immer wieder wird durch den Chor auf den Bau reagiert – sei es musikalisch oder auch mit Blicken, die das Geschehen begleiten. In den Händen halten die Musiker*innen keine gewöhnlichen Notenblätter, sondern ehemalige Orgel- und Webstuhllochkarten für ihre Gesangsperformance. Immer wieder scheint das, was in der Kirche verloren gegangen scheint, aktiviert zu werden, etwa als ein Orgelbauer versucht, ehemalige Orgelpfeifen erneut zum Klingen zu bringen. Auch schwenkt die Kamera der Künstlerin immer wieder in den Kirchenraum, zeigt leuchtende Kirchfenster, Statuen wie eine Madonna mit Kind, die in kurzen Sequenzen die Entweihung der Kirche vergessen lassen bzw. danach fragen, was dieser Raum immer noch ist, sein und werden kann. Im Prozess des akustischen Miteinanders aus Sound, Gesang, Geräuschen und konkreten Handlungen entsteht eine neue Gemeinschaft von Menschen unterschiedlichen Alters, die in die Zukunft bauen: eine Struktur, die offen genug ist, um vieles sein zu können; ein Ort der Versammlung, des Schutzes, des Austauschs – frei von Konnotation oder Ideologie.

Welche Möglichkeiten hat eine junge Generation heute, auf sich aufmerksam zu machen, von sich zu sprechen und zu agieren? Was ist das Ich, wenn es sich nicht nur in der Öffentlichkeit und in ständig sich ändernden Medien neu erfinden, spiegeln und unendlich vervielfältigen kann – und muss? Die BA Doing Fashion Graduates 2025 der HGK Basel FHNW loten diese Fragen sehr exakt und gestalterisch auf der Höhe der Zeit aus. Politische, soziale, aber auch kulturelle Widersprüche werden in einen installativen und zugleich performativen räumlichen Rahmen gespannt. Mode-Design ist dabei stets sehr viel mehr als Kleider und Textilien, die auf dem Körper getragen werden. Denn fortschrittliches Mode-Design kann die Persönlichkeit eines Menschen erst sichtbar machen und zur Geltung bringen. Im offenen Prozess erfinden sich Designer*innen – wie auch Kunstschaffende – neu, aktivieren ihre eigene Imagination und die der anderen und eröffnen dadurch neue Räume der Imagination: Räume, die das Publikum und dessen Wahrnehmung adressieren und integrieren – in Mode.
Diese erste Kooperation von Doing Fashion 2025 und Studiengangleiter Jörg Wiesel sowie mit Nils Amadeus Lange mit dem Kunsthaus Baselland und seiner Leiterin Ines Goldbach ist als eine Chance anzusehen; schon längst haben sich vonseiten der Kunst die Gattungen und Themen Performance, Fashion und (bewegter) Körper verbunden und werden von Designer*innen wie Kunstschaffenden gleichermassen aktiviert. Warum also diese Verbindung nicht deutlicher herausstellen und den Übergang von Fashion, Performance und Kunst fliessend verstehen?
Farben, Formen, Muster, Ornamente, Oberflächen, Strukturen, Material, Stil, aber auch Haltung, Interessen, Statements und Fragen zu kapitalistischer Produktion, Nachhaltigkeit oder Statements etwa gegen Fast-Fashion-Müll, den Europa oft in afrikanische Länder abwälzt, können dabei Themen sein. Auch zeigt sich, dass es bei der Vorstellung von Mode – gerade im Moment der hohen Kreativität und Freiheit während des Studiums, in dem Notwendigkeit, Funktionalität, Kommerz und Erfolg noch nicht im Vordergrund stehen – um grundlegende Themen gehen kann. Hier werden nicht Luxusartikel verhandelt, sondern Körper, Haltungen und Handlungen. Der uns nächste Raum nach der Architektur – die zweite Haut, der zweite Raum – ist das Textil, das uns umgibt; darauf ein neues Bewusstsein zu werfen, ist lohnend und steht im Zentrum der grossen Installation im Kunsthaus Baselland.

Der in Fulda lebende und tätige Künstler Franz Erhard Walther (*1939) gehört zu den Pionieren innerhalb der zeitgenössischen Kunst, die bereits ab den 1970er-Jahren den Begriff der Partizipation – im Sinne einer Aktivierung des Gegenübers – konsequent umgesetzt haben. Statt den Ausstellungsbesuchenden als passiven Flaneur zu verstehen, setzen seine Objekte und Werkauslagen, die, wie im Falle des Nürnberger Raumes, ganze Räume einnehmen können, auf Handlung. Diese Handlung versteht der Künstler jedoch nicht allein in haptisch ausgeführten Aktivitäten, sondern auch im agilen Denkprozess.
Wie hier im Kunsthaus Baselland ermöglicht eine Vielzahl von Baumwollstoffobjekten, die in Tonwert, Faltung, Format und Gestalt variieren, eine besondere Art der Betrachtung: eine, die das Gegenüber nicht vor dem Werk, sondern im Bild sein lässt. Man sieht somit nicht allein die Arbeit, sondern fügt als Betrachtende*r die eigene Vorstellung hinzu. Umgeben von den vielen unterschiedlichen Arbeiten, die zusammen mit dem Raum, den sie einnehmen, ein Ganzes ergeben, befindet man sich daher mittendrin. Die einzelnen, teils geometrischen, meist symmetrisch angelegten Stoffformen mögen an Gegenstände oder auch Kleidungsstücke erinnern, können aber auch ganz frei davon gesehen werden.
Ihnen wohnt jedenfalls eine Einladung inne: eine Einladung, sich gedanklich hineinzubegeben und sie mit der eigenen Imagination zu füllen. Fast alle scheinen durch ihre Konfiguration eine Art Öffnung und Schlupfloch zu besitzen. Bei längerer Betrachtung wird jedoch noch etwas anderes deutlich: Jedes der Werkteile, die in der Hängung zu einem dynamischen Ganzen als Vielklang zusammenkommen, kann auch als Einzelwerk erfahren werden. Es besitzt seinen Reiz als einzelne skulpturale Figur; als Form aus Volumen, Faltung, Innen- und Aussenraum, architektonisch und malerisch in seiner Anmutung. Auch die lockere, nicht massiv an der Wand angebrachten Werkteile, die vereinzelt mit Schaumstoff gefüllt sind, meist aber allein durch die Nähte oder Gestalt als Ganzes getragen werden, unterstreicht den Gedanken, dass der Prozess zentral für das Werk ist. Es kann durch den Künstler oder auch von ihm angewiesene Personen aktiviert werden, bleibt aber auch in Momenten der stillen Betrachtung ein aktives Instrument. Aktivierung meint hier eben genau auch jene, die im Kopf stattfinden kann und soll.
Es mag genau das sein, was seit Anbeginn an dem Werk von Franz Erhard Walther fasziniert und was bereits in Umrisszeichnungen ab den späten 1950er-Jahren erfahrbar wurde: Dem Ausstellungsbesuchenden wird grundlegend die Fähigkeit zugesprochen, das Werk durch die eigene Fantasie zu aktivieren, nahezu zu vervollständigen – und sich selbst dabei beim kreativen Akt der Wahrnehmung erfahren zu können.

Das erste Mal begegnete ich dem Werk von Rosalind Nashashibi (*1973) anlässlich ihrer Nominierung zum Turner Prize 2017, bei dem sie u. a. den Filmbeitrag Vivian’s Garden zeigte. Das sensible, poetische und feinfühlige Video begleitet die Künstlerinnen Vivian Suter und ihre Mutter Elisabeth Wild in ihrem Haus in Guatemala. Während Suter und Wild in Basel trotz ihres Weggangs stets ein Begriff in der Kunstszene blieben, wurde die Welt erst nach dem Auftritt von Vivian Suter an der documenta 14 wieder auf sie aufmerksam – das Video von Nashashibi wurde ebenso zu diesem Anlass gezeigt und leistete seinen Beitrag.
Diese Erzählung sagt bereits viel über das künstlerische Schaffen der palästinensisch-britische Künstlerin Nashashibi aus, die sowohl als Malerin als auch als Filmemacherin arbeitet und bevorzugt mit 16-mm-Film experimentiert. Mit Bezügen zur jüngeren und älteren Kunstgeschichte und Persönlichkeiten darin spürt sie immer wieder Geschichten auf der persönlichen sowie der kollektiven Ebene nach. Es sind meist zarte Annäherungen an Fragiles innerhalb der Gesellschaft, aber auch politische Ungereimtheiten. Wie behandeln wir das Individuum, welche Räume gibt es für jene, die nicht der Norm entsprechen, wann greift Poesie, wann Humor, wann Liebe oder Zuneigung?
Das Video The Invisible Worm enthält spontane Momente der Freude, Körperlichkeit und des lauten Denkens. Die hörbaren Subtexte des Films sind die Ausführungen einer Künstlerin zu unterschiedlichen Themen. Nashashibis langjährige Mitarbeiterin Elena Narbutaitė ist die Protagonistin und Co-Autorin des Films. Weitere Beteiligte sind Marie Lund, ein männliches Model, Nashashibis Sohn im Teenageralter und eine Katze namens Alyosha. William Blakes Gedicht Die kranke Rose aus dem Jahr 1794 zieht sich wie ein roter Faden durch den Film. Der unsichtbare Wurm erscheint zunächst als Haar an der Oberfläche des Films und mutiert im Verlauf zu einem animierten Wurm. Für Nashashibi symbolisiert er Irritation und Störung, aber auch Korruption, die auf mehreren Ebenen auftritt: im Privaten wie im Kollektiven oder Politischen – etwa wenn der Wurm über die Seiten mit glamourösen Bildern in einem Magazin wandert oder schliesslich scheinbar in das britische Parlamentsgebäude in Westminster eindringt.
Es gehört zu den grossen Themen der in London lebenden Künstlerin, sich mit ihren Filmen und Videos häufig an Alltagsbeobachtungen anzunähern, bei denen Beziehungen und Momente zwischen Gemeinschaft und Grossfamilie auf sanfte, poetische, aber auch sehr direkte, nicht verklärte Art offengelegt werden. Gemeinschaft kann viele Gesichter hervorbringen.

Bewegung, Körper und Sprache sind die zentralen Elemente, mit denen die in Zürich tätige Tanzperformerin Juliette Uzor (*1992) arbeitet. Gedankliche Ausgangspunkte für die gezeigte Rauminstallation, die mit zwei Performances aktiviert wird, sind das Textstück Über das Marionettentheater von Heinrich von Kleist sowie Kupferstiche, welche die Künstlerin in dem Anatomiebuch Albinus on Anatomy aus dem 18. Jahrhundert entdeckt hat: detailreiche Kupferstiche, die das menschliche Skelett zeigen. «Was mich daran vor allem faszinierte», so die Künstlerin, «waren die fantastischen Hintergründe der Skelettdarstellungen, die der Künstler van der Laar mit freier Hand und nach eigener künstlerischer Fantasie erstellen durfte. Sie zeigen romantische Landschaften, Elemente von Architektur wie Säulen und Sockel, aber auch wilde Tiere als Steinskulpturen oder antik anmutende Elemente wie Vasen […]. Ich las diese Hintergründe als Ausdruck einer stark kolonialistisch, aufklärerisch geprägten Zeit, in der sich der europäische Mensch in seinem Zentrum mit angeeigneten oder geschaffenen Dingen umgibt und von der Natur stimmungsvoll dekoriert wird.»
In der grossen Auslageordnung hat die Künstlerin nunmehr zwölf dieser Stiche herausgenommen, vergrössert und das menschliche Skelett – sozusagen den Hauptprotagonisten – herausretouchiert. Wie grosse Textilien hängen diese hintereinander gestaffelt frei im Raum und bilden neben weiteren Elementen eine szenografische Setzung innerhalb der Installation, als auch Background für die kommenden beiden Performances. Erst in der eigenen Bewegung des Besuchenden innerhalb des Raumes lassen sich die Drucke partiell einsehen. «Mich interessierten vor diesem Hintergrund die Bewegungssprache und das Zusammenspiel von Körpern in einem Raum», so die Künstlerin, «der durch Geschichte, Bilder, aber auch Erinnerung aufgeladen ist. Bei Kleists Text geht es in einer Unterhaltung um die Beziehung zwischen der Marionette und dem Maschinisten, der ein geschicktes Fingerspiel beherrschen muss, um die Marionetten tanzen zu lassen. Mehr als sein Inhalt, das Memorisieren als gemeinsame (Tanz-)Praxis (…) das Sprechen des Textes mit der eigenen Stimme, unsere unterschiedlichen Sprachen und die Bewegungen, die sich daraus ergeben. Durch das Auswendiglernen verinnerlichten wir Performerinnen einen Inhalt, der durch die Repetition plötzlich abstrakt und nur Klang wurde, da wir eher musikalisch und tänzerisch als theatral arbeiteten.»
Background, wie es Juliette Uzor als Begriff gerne verwendet, meint hier neben den Prints und den Bühnenelemente, Lautsprecher, Licht, Subwoofer, Wasserspender, Garderobe mit Kleidungsstücken – und – ein Perlenvorhang, der sich – bisweilen kaum merklich – dreht und den ganzen Raum in die zarte Schwingung versetzt; das Versprechen einer Veränderung, eine mögliche Erinnerung an eine Bewegung und die Anwesenheit eines Körpers innerhalb des Raumes – gleich dem Skelett, das einst auf den Kupferstichen zu sehen war. «Zuerst dachte ich, während des Aufreihens der Perlen gleichzeitig den Text zu lernen, den wir für die Performance auswendig sprechen. Beides sind Tätigkeiten, die sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Mich reizte der meditative Aspekt dieser beiden Tätigkeiten. Ich merkte aber, dass es unmöglich war, beides gleichzeitig zu tun: entweder Perlen aufreihen oder Text lernen. Beides sind Dinge, die AI-Maschinen heutzutage in no time tun könnten.» Ist es also auch hier, so frage ich mich, der eingeschränkte Körper, die Hände und die Zeit, die es braucht, die sich eingeschrieben haben? Vielleicht also steckt hierin die grösste und zugleich wichtigste Arbeit des Betrachtenden beim Begehen und Erfahren der Rauminstallation: ein installatives Werk, das Bewegung, Sprache, Text und Körper in sich trägt, die im Moment der eigenen Bewegung imaginiert und erfahren werden kann.
Zum Interview mit der Künstlerin und Ines Goldbach.
Alle Texte von Ines Goldbach.