Über die Metapher des Wachstums

21.5.  —
10.7.2011

Das internationale Ausstellungsprojekt Über die Metapher des Wachstums ist eine Kooperation vom Kunsthaus Baselland mit dem Kunstverein Hannover und des Frankfurter Kunstverein. In drei Ausstellungen sollen bei jeweils unterschiedlicher Akzentuierung künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Begriff des Wachsens präsentiert werden, die dessen heutige Ambivalenz in wirtschaftlichen, biologischen und gesellschaftlichen Kontexten verdeutlichen.

Wachstum wird im Allgemeinen positiv bewertet und als erstrebenswerter Prozess angesehen. Gemeinhin haben wir es ganz gerne, wenn etwas wächst: Die Blumen, unsere Kinder, unser Vermögen, das Bruttosozialprodukt, die Renten und natürlich die Volkswirtschaft insgesamt. Als ein zunächst der Biologie zugeordneter Begriff suggeriert Wachstum etwas Naturgegebenes. Dementsprechend signalisiert ‹Wachstum›, dass alles ‹natürlich› und damit richtig und in Ordnung zu sein scheint.

Wachstum wurde zu einem zivilisatorischen Leitwert, der eng verknüft ist mit einem tief verwurzelten Fortschrittsglauben, nach dem die existentiellen Probleme der Menschheit durch die Entwicklung von Technologie und Zivilisation lösbar scheinen. Beispielsweise versprechen Gen-Technologien die Optimierung der landwirtschaftlichen Produktion und der Pharmazeutik, so dass eine wachsende Weltbevölkerung auch in Zukunft versorgt und Krankheiten eingeschränkt werden können. Die Ingenieurswissenschaften visionieren eine nachhaltige Energieversorgung durch innovative Technologien auch noch im post-fossilen Zeitalter und während in der Raumfahrt die Erreichbarkeit fernster Planeten wächst, werden in Chemie und Physik immer kleinere Grundbausteine erschlossen und neue Mikrowelten entdeckt. Digital-Technologien beschleunigen sich exponentiell und im Bereich der Informationstechnologien spricht man mittlerweile von einer gigantischen Wissensexplosion. Die Möglichkeiten wachsen und expandieren, Grenzen werden überwunden oder scheinen in Grenzenlosigkeit aufzugehen — und Wachstum wird als die richtige Formel menschlicher Entwicklung bestätigt. Jedem Wachstum wird mit weiterem Wachstum begegnet.

Im weiteren Sinne bestimmt der Glaube an das Wachsen und an den Fortschritt die generelle Ausrichtung einer Gesellschaft auf die Entfaltung des Subjekts, auf das Zur-Blüte-Reifen, z.B. entlang von Ausbildung, beruflicher Karriere, Familiengründung. Das Wachsen, der Fortschritt und das Streben danach gelten als unbescholtene Axiome und ihr Antipode — die Regression — geradezu als Tabu. Doch selbst wo es nicht um Rückschritt, sondern um die eventuelle Beibehaltung eines Status Quo geht, scheint dies im menschlichen Selbstverständnis zumeist die schlechtere Alternative zu sein: Stillstand und Stagnation sind tendenziell eher negativ und die Fort- und Weiterentwicklung grundsätzlich positiv konnotiert.

Folgt man dem Begriff des Wachstums als einer der Biologie entlehnten Metapher, so begegnet man einer zweiten Seite, die in der metaphorischen Verwendung meist negiert wird. Organisches Wachstum ist immer bestimmt durch eine natürliche Grenze, es kennt den Zustand des Ausgewachsenseins und ist geprägt durch den Kreislauf von Werden und Vergehen. Beim Menschen hingegen ist zwar das Erwachsen-Werden als Ziel und Teil des Entwicklungsprozesses erstrebenswert, der Seite des Vergehens jedoch versucht er zu entkommen oder sie wenigstens hinauszuzögern, z.B. durch lebensverlängernde Maßnahmen oder durch den Erhalt von Jugendlichkeit. Stagnation, Vergänglichkeit und Erneuerung sind Teil des ‹Natürlichen›, finden aber in der metaphorischen Verwendung kaum Akzeptanz. So kennt beispielsweise das Wirtschaftswachstum oder die technologische Entwicklung keinen Zustand des Ausgewachsenseins, keine Grenze und keine Sättigung. Der Wirtschaftswissenschaftler Nicolai Kondratieff zum Beispiel ging davon aus, dass die Globalkonjunktur infolge technologischer Innovationen im Zyklus von etwa 50 Jahren kontinuierlich wachse — die Eckdaten dieser ‹Kondratieff-Zyklen› sind die Jahreszahlen 1800 (Dampfmaschine und Webstuhl), 1850 (Eisenbahn, Telegrafie, Fotografie), 1900 (Ottomotor, Elektrifizierung), 1950 (Kunststoffe, Fernsehen, Kernkraft, Raumfahrt) und 2000 (Mikroelektronik, Gentechnologie). Allerdings entspricht ihnen keine Zyklik des Längenwachstums von Pflanzen, Tieren oder Menschen. Durch die Benennung der vermuteten Wirtschaftszunahme mit der Metapher des Wachstums wird deren Natürlichkeit konstruiert.

Erst im Zuge von Krisen wird die Frage nach den Grenzen des Wachstums offenbar: wenn der Unfall in Tschernobyl die Vision unbegrenzter Energie zerstört, wenn die jüngste Wirtschaftskrise den Glauben an permanente Wertsteigerungen erschüttert, wenn bösartige Krebszellen wachsen, wenn Prognosen zum Anstieg der Weltbevölkerung oder zur Entwicklung des globalen Klimas eine düstere Zukunft der Welt skizzieren. Die Gefährlichkeit des vom Menschen produzierten, grenzenlosen Wachstums thematisierten bereits die Gebrüder Grimm mit dem Märchen vom süßen Breis. Der Brei, der sich auf Befehl wundersam vermehrte und die Familie ewig zu ernähren versprach, geriet außer Kontrolle und drohte plötzlich, die ganze Stadt zu ersticken. Ein Märchen, das in jüngster Zeit durch das Wohlstand bringende Erdöl, das nicht mehr aufhören möchte zu sprudeln, zu einer erschreckenden Realität geworden ist.

Auf dem Gebiet der kulturellen Produktion ist das Wachstumsdenken als zentrales Prinzip gesellschaftlicher Organisation schon seit längerem ein wichtiges Thema. Künstler nehmen den Begriff des Wachstums und den damit verbundenen Fortschrittsglauben anhand exemplarischer Phänomene zum Anlass für Untersuchungen und Visualisierungen. Ihre Perspektiven und Arbeitsweisen zielen auf Wachstum als Metapher und operieren dabei oft selbst metaphorisch. Deswegen begreifen wir ihre Ergebnisse und Werke als künstlerische und subjektive Entwürfe — weniger als analytische Argumentationen. Wie bei jeder gesellschaftsbezogenen Kunst ist auch die Auseinandersetzung mit solchen Entwürfen getragen von der Hoffnung, dass es gerade der künstlerische Umgang mit dem Wachstumsdenken sein könnte, der die notwendige Distanz zur Reflektion dieser zentralen Axiomatik erst herzustellen in der Lage ist.

Angesichts globaler Bedrohungen wie der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise oder der Klimaveränderung beschäftigen sich Künstler mit dem Wesen des Wachstums und mit seinen Grenzen. Biologische Kreisläufe, mathematische Exponentialformeln, Modelle utopischer Technologien oder kritische Kommentare zur expansiven Ökonomie bilden Ausgangspunkte vieler zeitgenössischer Arbeiten. Es geht z.B. um die exemplarische Befragung von Arbeit und Produktivität als zentrale gesellschaftliche Werte, es geht um die ökologischen Auswirkungen und Kehrseiten kapitalistischer Wertschöpfungszusammen-hänge und um die Abstraktheit von Geldwerten. Es geht um die soziale Distinktion des ‹schöner, schneller, weiter›, um Ohnmacht angesichts von Wachstums-Imperativen und um die Maske der Glücksversprechen des Konsums. Es geht aber auch um die Faszination, die in der Unbegrenztheit der Möglichkeiten liegen kann, um die Schönheit autonom wachsender Strukturen, um gewünschte Wucherungen, Taumel und Kontrollverluste.

Dieser sich im Bereich der zeitgenössischen Kunst herausbildenden, thematischen Tendenz möchte das geplante Ausstellungsprojekt eine große Bühne geben: Erstmals sollen verschiedene Stränge der künstlerischen Auseinandersetzung mit Phänomenen des Wachstums zusammengeführt werden, um ein Spannungsfeld aus positiv und negativ konnotiertem Wachsen zu konstruieren, das Anlass zu grundlegenden Reflexionen bietet. Die Entwürfe der Künstler — ihre Reaktionen und Antworten auf spezifische Folgen des Wachstumsdenkens — sollen eine Art Matrix bilden, die die zentrale Stellung des Begriffes Wachstum im gesellschaftlichen Selbstverständnis erfahrbar macht.

Das Ausstellungsprojekt Über die Metapher des Wachstums soll in Form eines institutionellen Dreiecks realisiert werden: Der Kunstverein Hannover, der Frankfurter Kunstverein und das Kunsthaus Baselland haben gemeinsam einen Pool von Künstlern zusammengestellt, aus dem heraus für jede der drei Institutionen eine eigene Ausstellung komponiert wird, die auf die jeweilige Charakteristik der Institution und ihre lokalen Anschlußmöglichkeiten abgestimmt ist. Jede Ausstellung wird unterschiedliche Schwerpunkte setzen, unterschiedliche Facetten benachbaren und einem jeweils unterschiedlichen kuratorischen Duktus folgen. Alle am Gesamtprojekt beteiligten Künstler werden in mindestens einer Ausstellung präsentiert, manche in zweien, einige wenige sowohl in Hannover, als auch in Frankfurt, als auch in Basel. An jedem der drei Orte sollen jeweils spezifische Begleitprogramme realisiert werden, die verschiedene Aspekte der Thematik beleuchten. Eine gemeinsame Publikation dokumentiert dann alle Ausstellungen und führt alle Stränge des Projekts zusammen. Zur Rezeption von Über die Metapher des Wachstums wäre der Besuch jeder der drei Ausstellungen keine Voraussetzung, denn es handelt sich nicht um eine additive Argumentation. Stattdessen werden drei Zugänge und drei Formen angeboten, die sich gegenseitig verstärken, über bestimmte Elemente gebündelt sind und zum Besuch mehrerer Orte verführen.
Text von Holger Kube Ventura, Sabine Schaschl, René Zechlin

KuratorIn: Sabine Schaschl

Argentato Marisa Pennacchio Pasquale G 2011 1
Argentato/Pennacchio, Do it just, 2008, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2011, Foto: Kunsthaus Baselland

Das Video Modern Relics (2008) von Marisa Argentato & Pasquale Pennacchio (IT, geb. 1977/1979, leben in Berlin) bezieht sich auf Pier Paolo Pasolinis berühmten Film La Ricotta (1962). Erzählt wurde darin von einer Filmproduktion zur Passion Christi und gleichzeitig vom ausschweifenden und korrupten Leben, das sich am und hinter dem Filmset abspielt. Pasolini ging es um die Falschheit der filmischen Illusion im Vergleich zur Realität ihrer Produktion, die selbst jedoch ebenfalls nur im Film existiert. In der Eingangsszene von La Ricotta sind zwei Männer mit freiem Oberkörper zu sehen, die vor einem reich gedeckten Tisch zu einem Schlager tanzen. Im Video von Argentato & Pennacchio wird genau diese Szene auf eine illegale italienische Müllkippe verlagert. An die Stelle des überladen gedeckten und an Stillleben aus dem 17. Jahrhundert erinnernden Tisches bei Pasolini treten Reste und Abfälle, moderne Hinterlassenschaften, vielleicht die Altlasten der Moderne. In der Arbeit Do it just (2008) thematisieren die Künstler den Handel mit Kopien von Markenwaren und stellen das Besitz-Bedürfnis des Konsumenten, den Schäden für die Wirtschaft gegenüber. Neun Nike-Jacken wurden in einer Firma in Neapel mit jeweils unterschiedlichen symmetrischen Mustern gefälscht. Argentato & Pennacchio thematisieren Produktionsbedingungen und Zusammenhänge von Arbeit, Geld und Wertschöpfung und damit verbundene Versprechen auf ein Vorankommen des Individuums.

Blazy Michel G 2011 1
Michel Blazy, Fontaine de Mousse, 2011, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2011, Foto: Kunsthaus Baselland

Die Werke von Michel Blazy (F, geb. 1966 in Monaco, lebt und arbeitet in Paris) sind geprägt von ihrem experimentellen und oft ephemeren Charakter. Die Werkstoffe seiner Malereien, Skulpturen und Installationen sind entweder der Natur entnommen oder entstammen Bau-, Garten- und Supermärkten. Die Materialien überlässt Blazy den natürlichen Verfallsprozessen, die in Form von Schimmelpilzkulturen Wachstumsprozesse hervorrufen. Wenn Blazy beispielweise ein Feld aus mit Lebensmittelfarben versehenen Kartoffelflocken von der Decke bewässert, so bestimmt er dabei zwar die grundsätzlichen Settings der Installation, andere Einflüsse wie Luftfeuchtigkeit, Lichteinfall, Temperatur oder die biologischen Prozesse der jeweiligen Materialien selbst hingegen tragen ihren Teil zum Erscheinungsbild der Arbeit bei. Seinen Arbeiten liegt etwas Unkontrollierbares und Zufälliges zugrunde, und meist bestimmt die Dauer einer Ausstellung, inwieweit Prozesse sichtbar bleiben bzw. wann sie gestoppt werden. Seit den 1990er Jahren experimentiert der Künstler auch mit Badeschaum, der für eine Reihe von Skulpturen und Installationen zum Einsatz kam. Im Rahmen der Ausstellung Über die Metapher des Wachstums werden sowohl im Kunstverein Hannover als auch im Kunsthaus Baselland Schauminstallationen gezeigt. Platziert in Müll- oder Regentonnen, aus Wänden oder Regalen hervorquellend, wächst der dichte Schaum kontinuierlich zu einer Form, die sich gleichzeitig wieder auflöst. Die skulpturale Erscheinung der Installation beschreibt einen ständigen Wandel, bei dem Werden und Vergehen einen engen Kreislauf eingehen. Die von Blazy verwendeten Behälter, wie Regen- und Mülltonnen, aus denen der Schaum hervorquillt, dienen auch im Alltagsgebrauch als Behälter für Masse, die verbraucht, weiterverarbeitet und neuerlich gefüllt wird. Der unaufhörlich heraustretende Schaum veranschaulicht geradezu paradigmatisch den natürlichen Kreislauf der Metapher des Wachstums. In einer weiteren Arbeit, die im Kunsthaus Baselland präsentiert wird, bearbeitet Michel Blazy eine Wand mit einem Gemisch aus Agar-Agar und Lebensmittelfarbe. Das aus der asiatischen Küche bekannte Geliermittel bricht im Laufe der Zeit auf und löst ‹Schälprozesse› aus. Die Wand runzelt und altert — wie Haut nach einem Sonnenbrand oder die Rinde eines Akazienbaumes.

Bottini Max G 2011 1
Max Bottini, Zweimal wachsen, 2011, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2011, Foto: Kunsthaus Baselland

Im Mittelpunkt der künstlerischen Tätigkeit von Max Bottini (CH, geb. 1956 in Bürglen, lebt und arbeitet in Uesslingen) steht neben der Malerei vor allem seine Auseinandersetzung mit Lebensmitteln, ihrem Ursprung, ihrer Zubereitung und gesellschaftlichen Relevanz ebenso wie Prozesse der Natur und ihrer künstlerischen Vermittlung. In zahlreichen Projekten und Aktionen rückte er die natürlichen und sozialen Komponenten rund um das Essenins Zentrum. So gelangte von April bis September 1994 ein Projekt zur Durchführung, bei dem eigens hierfür aufgezogene, natürlich gemästete, penibel gewogene und professionell geschlachtete Hühner schlussendlich nach einem Rezept aus Hongkong zubereitet unter der Thur-Brücke im Schweizerischen Thurgau von geladenen Gästen verspeist wurden. Die Rituale rund um das Essen, die Überlieferung von Rezepten, die Gaumenerlebnisse und der Tisch als Ort des Gesprächs standen dabei im Mittelpunkt von Bottinis Interesse. Ein weiteres Großprojekt im Kunstmuseum Thurgau (2000–2001) beinhaltete das Sammeln und Degustieren von 1.100 in Einmachgläsern gelagerten Lebensmitteln, wobei vor allem die Möglichkeit des Austauschs von Geschmacksempfindungen und Rezepten dem Werk seinen kommunikativen und prozesshaften Charakter verlieh. Für die Ausstellung im Kunsthaus Baselland konzipierte Bottini ein Projekt, bei dem das Wachstum eines sogenannten Zauberbambus’ akribisch beobachtet wird. Bottini platziert eine Bambuspflanze im Außenraum des Kunsthaus Baselland und versieht das Sprossenende mit einem in den Innenraum führenden Faden, an dessen Ende ein Bleistift angebracht ist. Vergleichbar mit dem Markieren des Wachstums der Kinder, welches meist an Türrahmen oder an versteckten Wandteilen der elterlichen Wohnung eingezeichnet wird, lässt der Künstler das Gedeihen der Pflanze zu einem nachvollziehbaren, sichtbaren Prozess werden. Bottinis Aktionen und Installationen verwenden oft bekannte Handlungsweisen, die durch die künstlerische Handhabung als Forschungsmethode auf Seite des Rezipienten zu einer neuen Sensibilisierung führen.

Boulos Mark G 2011 1
Mark Boulos, All that is solid melts into air, 2008

Mark Boulos (USA, geb. 1975, lebt in Amsterdam) thematisiert in seinen Arbeiten das Verhältnis von religiösem Fundamentalismus, Ideologie und Terrorismus. Er bereist schwer zugängliche Gegenden oder gesellschaftliche Enklaven und sammelt dort dokumentarisches Filmmaterial, das später zuweilen poetisch, zuweilen radikal überspitzt editiert wird. Es entstehen Filme und Videoinstallationen, die mit dem sozialkritischen Gebrauchspotential dieser Medien experimentieren: Mark Boulos’ Arbeiten konfrontieren den Zuschauer nicht mit linearen Dokumentationen, sondern mit dem filmischen Prozess der Analyse, Interpretation und Bewertung. In seiner 2-Kanal-Videoinstallation All that is solid melts into air — deren Titel ein Zitat aus Karl Marx’ Kommunistischem Manifest ist — stellt er zwei Welten räumlich einander gegenüber. Die eine Seite zeigt militante nigerianische Widerstandsgruppen im Mündungsdeltas des Nigers, einem der wichtigsten Erdölfördergebiete der Erde. Boulos hat mehrere Wochen vor Ort verbracht und zeichnet ein verstörendes Bild des lokalen Widerstands gegen die Ölförderanlagen ausländischer Konzerne. Die Ölförderung hat der Gegend keinerlei ökonomischen Fortschritt gebracht, sondern im Gegenteil die Subsistenzwirtschaft der Bevölkerung nachhaltig zerstört. Boulos’ Videoinstallation beschreibt die Aggression nigerianischer Fischer, die angesichts der Ausbeutung ihres Landes und des Entzugs ihrer Lebensgrundlage durch Wasserverschmutzung nun zur Waffe gegriffen haben. Die andere Projektionsseite der 2-Kanal-Installation porträtiert den globalen Handel mit dem Rohstoff Öl an der internationalen Börse in Chicago. Das Material zu diesem Video drehte Mark Boulos zur Zeit des Zusammenbruchs der US-amerikanischen Bear Sterns Bank, dem kurz darauf die internationale Kreditkrise 2008 folgte. Genau wie der Ort der Rohstoffförderung in Nigeria wird auch der Ort des wertschöpfenden Handels mit diesem Rohstoff an der Börse von Boulos als Kriegsschauplatz dargestellt: Sein Video präsentiert den Kampf der Börsianer, die spekulierende Raserei der Broker um Vorteile angesichts schwankender Kursnotierungen zum Wert des Erdöls. In Form einer poetischen Parabel vergleicht Boulos zwei Phasen des Erdöls als Ware auf seiner Reise durch die kapitalistische Weltordnung: von seiner Förderung in den Sümpfen des Nigerdeltas bis hin zu seiner ökonomischen Auflösung an den elektronischen Börsentafeln in Chicago. Aus Sicht des Künstlers sind beide Seiten von Kämpfen und zugehörigen Ritualen bestimmt, vom Glauben an Kriegsgottheiten und an materielle und immaterielle Fetische. Boulos fokussiert in der Installation All that is solid melts into air sowohl auf den Status der Selbstinszenierung der Akteure als auch auf die stets angenommene Authentizität dokumentarischen Materials. Die perfekt synchronisierten Filme beider Screens gehen von medialen und kulturellen Klischees aus, um deren wahren Kern umso stärker zu betonen.

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Peter Buggenhout, The Blind Leading the Blind, Nr.35, 2010, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2011, Foto: Kunsthaus Baselland

Einige der in der Ausstellung Über die Metapher des Wachstums präsentierten Arbeiten beschäftigen sich abstrahierend mit dem elementaren, natürlich anmutenden Wachstum: Künstler wie Peter Buggenhout (BE, geb. 1963, lebt in Gent) erschaffen Werke, die das Prinzip von Entstehen und Vergehen, Entwicklung und Zerfall in Material und Formen sinnlich erlebbar machen. Seine Skulpturen sind aus alten Baustoffen und Abfallstücken zusammengefügt — wie z. B. das Holz eines alten Fischerbootes, die Metallstreben einer ehemaligen Jalousie, die Kunststoffrohre einer ausrangierten Wasserleitung — und mit ungewöhnlichen organischen Materialien bearbeitet: So kommen für die Werke aus der Serie der Gorgos unter anderem Schweineblut und Pferdehaare zum Einsatz, und die seltsamen Oberflächen der Werke aus der Serie Mont Ventoux bestehen aus getrockneten Kuhmägen. In der Serie The Blind Leading the Blind — die das gleichnamige berühmte Bild von Pieter Bruegel aufruft — überdeckt der Künstler seine Skulpturen mit einer dicken Schicht aus grauschwarzem Haus- oder Industriestaub, die anschließend aufwändig fixiert wird. So auch in dem großen Werk mit der Nummer 35 aus dem Jahre 2010. Zunächst wirkt es wie ein Scheiterhaufen oder Menetekel einer Katastrophe, wie übriggebliebener und zusammengeschobener Schutt eines eingestürzten Gebäudes. Man mag an die monströsen Überreste des New Yorker World Trade Centers nach dem Anschlag denken: gewaltige, verbogene und geborstene Konstruktionselemente, zusammengehalten aus erstarrten Flüssigkeiten, die eigentümliche Gerüche verströmen, überzogen mit einer dicken Staubschicht. Die Oberflächen in Buggenhouts Skulpturen changieren zwischen unbeschreiblichem, zuweilen apokalyptisch anmutendem Chaos und fein ziselierten Strukturen. Nur an manchen Stellen der Werke erweist sich die präzise bildhauerische Gestaltung: Es sind weder gefundene Ensembles oder Überbleibsel noch organisch gewachsene Klumpen. Die Skulpturen scheinen einer Logik zu folgen, die sowohl innerhalb ihrer Elemente und in den Bedingungen ihres Aufstellens wohnt als auch außerhalb — beim Urheber. Gerade weil sie auf nichts Anderes als sich selbst verweisen, erscheinen sie dem Betrachter stets als wesenhafte Gegenüber: Sie haben Charakter und Ausdruck, enorme Präsenz und Individualität und sind ebenso technische wie organische Gebilde. Obwohl die Herkunft von einzelnen ihrer Bestandteile zuweilen identifizierbar ist, sind sie referenzlos, autonom: Es handelt sich bei diesen Objekten nicht um bildhauerische Darstellungen, sie enthalten keine Narrationen oder gar symbolische Verweise. Peter Buggenhout spricht in diesem Zusammenhang von ‹abject things›, Dinge also, die jede Identifizierung zurückweisen, einschließlich jener als künstlerische Objekte. Diese Eigenart der Werke zu erreichen — nicht etwa eine spezifische Form —, ist das Ziel von Buggenhouts künstlerischem Arbeitsprozess. Die Materialien werden solange plastisch aufgehäuft, zusammengefügt und in malerischer Weise bearbeitet, bis sich ein Grad an Abstraktheit einstellt, der jegliches symbolisches Verweispotential ausschließt. Gerade deswegen können Buggenhouts Werke als metaphorische Visualisierung des Prinzips vom Entstehen und Vergehen, von Entwicklung und Zerfall verstanden werden. Bei aller Morbidität und radikaler Widerständigkeit scheinen diese Skulpturen Manifestationen eines universellen Wachstums und eines unaufhaltbaren Lebensprinzips zu sein.

Fleury Sylvie G 2011 1
Sylvie Fleury, ELA 75 K, 2000, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2011, Foto: Kunsthaus Baselland

In ihrer ersten Ausstellung 1990 schien Sylvie Fleury (CH, geb. 1961, lebt in Genf) unter dem Titel C'est la vie die Beute einer Shoppingtour zu präsentieren: Sorgfältig nebeneinander aufgereiht standen auf dem Fußboden der Galerie Rivolta in Lausanne Einkaufstüten und Schachteln von Luxusmarken. Die Dinge, die sich damals möglicherweise in diesen Tüten verbargen, wurden wenige Jahre später selbst zum Gegenstand von Fleurys Kunst: Gucci-Schuhe, Louis Vuitton-Taschen und Chanel-Parfumflakons erschienen als verchromte Bronzen in Museumsvitrinen oder auf mit Plüsch überzogenen Galeriesockeln. Auch aus banalen Gegenständen wie Einkaufswagen, Papierkörben oder Leitern ließ sie vergoldete Bronzen anfertigen, und selbst Autowracks gerieten bei ihr zu anziehenden Objekte, indem sie diese in den Nagellack-Trendfaben der Saison präsentierte. Fleury stellt nicht einfach begehrte Marken und Labels aus, sondert produziert Kunstwerk(waren), die versprechen, genau dasselbe Begehren befriedigen zu können. So gesehen ist es ist die Tyrannei des Begehrens und nicht Konsumkritik, die sie dem Betrachter mit jedem neuen Kunstwerk regelrecht vorführt. Als Brandstifterin und -bekämpferin zugleich verlässt sie sich auf die Wirkung glänzender, wertiger Oberflächen wie Gold, Silber oder Chrom, die jedem noch so banalen Gegenstand eine besondere Aura verleihen. «Die Idee ist, etwas zu benutzen, das in Hunderttausenden von Exemplaren hergestellt worden ist, und auf einmal sein Zeichen darauf zu hinterlassen, ein Zeichen, das gleichzeitig die Zugehörigkeit zu einem Clan, zu einer Kultur oder identitätsstiftenden Gemeinschaft bedeutet, d. h. zu einer anderen Gruppe als die der Masse. Es sind Buttons der Rebellion.» (Sylvie Fleury) Die Künstlerin zitiert in Skulpturen wie Ladder (2007), Yes to All (2004) und Ela 75K (Go Pout), (2000) einfache, eher kurzlebige Gebrauchsgegenstände und konterkariert deren Profanität mit Materialien wie Bronze und Gold, die aufgrund ihrer Kostbarkeit und Langlebigkeit für Fortbestand stehen. So wurden z. B. aus Bronze nicht nur Statuen für die Ewigkeit gegossen, sondern — wie etwa im römischen Reich — auch Gesetzestafeln. Gold gilt seit jeher als das edelste Metall und spielte in früheren Kulten um Götter und Herrscher eine ebenso wichtige Rolle wie in Zeiten von Finanzkrisen und schwankenden Märkten als scheinbar sicherste Geldanlage. Durch den Bronzeguss und die Vergoldung sind Leiter, Papierkorb oder der Einkaufswagen zu teuren und verknappten Kunstobjekten geworden, deren Erwerb sich nur noch die Reichen leisten können. Obwohl der Gebrauchswert der veredelten Gegenstände nach wie vor erhalten ist, treten nun ihr Tauschwert auf dem Kunstmarkt und ihr Potential zu Distinktion und Wertsteigerung in den Vordergrund. Sylvie Fleurys Kunstwerke gehen nicht in ihrer reinen Käuflichkeit auf, sondern versprechen darüber hinaus intellektuelle Befriedigung — auch bei einer Luis Vuitton-Tasche ist die Gebrauchsmöglichkeit wohl weniger entscheidend als das Gefühl von Erhabenheit, das sie ihrer Trägerin geben mag. Mit dem Kauf solcher Luxus-Accessoires genauso wie mit dem solcher Kunstwerke können ähnliche Begehren gestillt werden. Voraussetzung dafür sind jedoch erhebliche finanzielle Ressourcen. Anders gesagt, um den goldenen Einkaufswagen kaufen zu können, muss man zuvor für wachsenden Erfolg sorgen.

Greenfort Tue G 2011 1
Tue Greenfort, 1 Kilo PET, 2007, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2011, Foto: Kunsthaus Baselland

Tue Greenfort (geb. 1973 in Holbæk/DK, lebt in Berlin) beschäftigt sich mit Verhältnissen zwischen Mensch und Natur und den Auswirkungen menschlicher Handlungen auf das Ökosystem, insbesondere auf Energie- und Stoffkreisläufe. Mit seinen Skulpturen und Installationen lenkt er den Blick auf Problemfelder, die sich durch Wachstumsprozesse ergeben. Mehr als um eine im Rahmen der Kunst geäußerte Kritik an Umweltverschmutzung oder Anleitung zur Ressourcenschonung handelt es sich dabei vielmehr um politisch aufgeladene, ästhetische Anordnungen, die mit Referenzen zur Minimal Art und Konzeptkunst operieren. Seine Skulptur 1 Kilo PET (2007), ein aus 29 Polyethylenterephthalat-Flaschen geschmolzener Haufen Plastik, thematisiert die Verhältnismäßigkeit von Produktion, Nutzen und Ressourcenverbrauch. PET-Flaschen wurden in den 1980er Jahren in der Lebensmittelindustrie eingeführt, besonders erfolgreich für den Verkauf von Trinkwasser. Sie galten wegen ihrer Leichtigkeit und der geringeren Transportkosten als umweltfreundliche Alternative zur Glasflasche. Aber: PET kann nicht ohne Weiteres zu neuen Flaschen recycelt werden, es erreicht beim Einschmelzen keine ausreichende Transparenz. So müssen stets enorme Mengen neu produziert werden, um den Bedarf zu decken. Greenfort basiert seine Überlegungen auch auf folgende Tatsachen: Die Produktion von 1 Kilogramm PET benötigt 17,5 Kilo Wasser und hat den Schadstoffausstoss von 40 g Kohlenwasserstoff, 25 g Schwefeloxid, 18 g Kohlenmonoxid und 20 g Dioxid zur Folge. Die Herstellung einer PET-Flasche benötigt demnach mehr Wasser, als sie letztendlich aufnehmen kann, wobei zusätzlich Schadstoffe freigesetzt werden. Das Werk Hungry for more (obesity starvation) (2008) besteht aus Einwegtüten mit aufgedrucktem Smiley, wie sie in New York in vielen asiatischen Fastfood-Läden verwendet werden. Greenfort hat die Tüten zu einem Gebilde aneinandergeschweißt, in das ein Ventilator Luft hineinbläst bzw. hinaussaugt. Dadurch entsteht ein „atmender“ Zusammenhang: Während das Smiley bei aufgeblasener Tüte besonders breit ist, schrumpelt es zusammen, wenn die Luft hinausgesaugt wird. Der Künstler thematisiert in dieser Arbeit die Diskrepanz von weltweit steigenden Zahlen übergewichtiger Menschen bei einer gleichzeitigen Steigerung der Zahl Hungernder. Professor Popkin von der University of North Carolina legte 2006 der International Association of Agricultural Economists Zahlen vor, wonach 300 Millionen Übergewichtiger der Zahl von 800 Millionen Unterernährten gegenübersteht. Im Jahre 2007 spricht die FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations) von 923 Millionen chronisch hungernden Menschen und führt diese Tatsache nicht zuletzt auf die steigenden Lebensmittelpreise zurück. Das Objekt der ein- und ausatmenden Smile-Taschen wird zu einer Art Mahnmahl, das an die elementarte aller menschlichen Bedürfnisse und ihrer ungleichgewichtigen Verteilung in der Welt erinnert. Die Arbeit From Petroleum to Protein (2007/2011) basiert auf einem Artikel im Scientific American von 1965, in welchem die Gewinnung von essbarem Protein aus Rohöl beschrieben wird. Die Transformation erfolgte mittels bakterieller Prozesse und wurde zunächst in einem Werk von BP bei Marseille erprobt. Der Versuch zielte darauf ab, die Ernährungsversorgung bei steigender Weltbevölkerung zu lösen. Nach einigen Testjahren, in welchen bereits Tiere mit diesen Proteinen gefüttert wurden, wurde das Projekt, nachdem die Befürchtung von Krebserkrankungen als Folgewirkung überhandnahm, eingestellt. Greenfort stellt in einer Vitrine die Zeitschrift mit dem ursprünglichen Artikel aus, ebenso wie eine neuerliche Versuchsanordnung, die vom Kantonalen Laboratorium Basel-Landschaft aufgesetzt wurde. Dabei wurde in einem Glasbehälter ein Pilz (Candida Tropicalis) mit Paraffinen (aus der Dieselproduktion) angesetzt. Das Ziel ist auch hierbei, in Anlehnung an den wissenschaftlichen Artikel, die Produktion von Protein. Greenfort thematisiert in dieser Arbeit die heute mehr denn je gültige Frage nach der Lebensmittelversorgung der steigenden Weltbevölkerung und zeigt mit dem beispielhaften Lösungsansatz auf, wieviel Forschung und Arbeit diese Suche beinhaltet.

Keller San G 2011 1
San Keller, Geldsack, 2004, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2011, Foto: Kunsthaus Baselland

San Keller (CH, geb. 1971 in Bern, lebt und arbeitet in Zürich) bezeichnet sich selbst gerne als ‹Dienstleistungskünstler›. Seine Kunst manifestiert sich meist in Form von Aktionen, in denen er dem menschlichen Verhalten, den Funktionsweisen sowohl des Kunstsystems wie auch der Gesellschaft nachspürt und diese hinterfragt. Eine seiner bekanntesten Aktionen trägt den Titel San Keller schläft an Ihrem Arbeitsort, die er erstmals im Jahr 2000 durchführte. Die Arbeit beinhaltet die Vereinbarung, dass der Künstler am Arbeitsort des Auftraggebers schläft, auch während dieser seiner Arbeit nachgeht. Der Lohn für das Schlafen entspricht jeweils dem durchschnittlichen Tageslohn des Auftraggebers. Die Aktion wurde seither von verschiedenen Arbeitgebern ‹gekauft› und hat sehr unterschiedliche Reaktionen der Medien und Öffentlichkeit hervorgerufen. Etwas vermeintlich Inaktives wie das Schlafen als geldwerte Leistung zu behandeln, wurde vielseits als Provokation verstanden. In den Ausstellungen Über die Metapher des Wachstums in Basel und Hannover zeigt San Keller die Arbeit Mein Kontostand (2005). Ursprünglich anlässlich einer Ausstellung in der Galerie Brigitte Weiss entstanden, veröffentlichte der Künstler täglich den aktuellen Stand seines Girokontos, wie er auf dem Kontoauszug erschien. Die Unikate waren zum Preis eben dieses Kontostandes käuflich. Im Kunsthaus Baselland wird die Arbeit insofern erweitert, als während der Woche der Art Basel (15.—19. Juni 2011) der auf Tischsets ausgedruckte tägliche Kontostand in Wirtshäusern rund um das Messegebäude aufgelegt wird. San Keller wird jeden Tag in einem der Restaurants zu Mittag essen und das dort benutzte Tischset in die Ausstellung zurückführen. Die Spuren des Essens und die Wertsteigerungen künstlerischer Werke anlässlich der Kunstmesse gelangen dabei zum Thema. Die zu Beginn der Ausstellung lediglich mit dem jeweiligen Datum der geplanten Aktion bezeichneten Bilderrahmen, werden so im Zeitraum vom 15. bis 19. Juni 2011 mit dem täglichen Kontostand des Künstlers ergänzt. 

Ebenso sind die Audio-Arbeit Blow Up (2005) und das Objekt Geldsack (2004) im Kunsthaus Baselland zu sehen. Beim Erwerb des Geldsacks verpflichtet sich der Besitzer, den Geldsack vor jeder Reise in ein Land, in dem Armut herrscht, mit Münzen der dortigen Landeswährung zu füllen und den Inhalt auf der Reise Münze für Münze an Bettler zu verteilen – bis der Geldsack leer ist. Die Arbeiten, die das Thema Geld aufgreifen, rufen meist besonders emotionale Reaktionen der Rezipienten hervor. Das Anhäufen und Verlieren von Geld, ob physisch oder auf Papier ausgedruckt vor Augen geführt, kann nicht nur als individuelle, sondern als generelle Metapher gelesen werden, die das gesellschaftliche Ziel nach permanenter Geldvermehrung widerspiegelt. Das Zerplatzen der ‹Seifenblase› vertont San Keller mit der Arbeit Blow-Up dagegen ganz direkt: Beim Abspielen des CD-Players ist das Geräusch des Aufblasens eines Ballons zu hören, bis dieser mit lautem Knall platzt.

Mundwiler Sebastian G 2011 1
Sebastian Mundwiler, Eine kleine Führung, 10.7.2011

Sebastian Mundwiler (geb. 1978 in Arlesheim, lebt und arbeitet in Basel), der über eine Ausbildung als Stauden- und Kleingehölzgärtner und über ein Kunststudium verfügt, konzipiert für die Ausstellung Über die Metapher des Wachstums eine botanische Führung in unmittelbarer Nähe zum Kunsthaus Baselland. Seine konzeptuellen Überlegungen folgen den vor Ort vorhandenen Pflanzen, wobei sowohl über die ortsspezifischen Gegebenheiten, die das Wachstum der Pflanzen ermöglichen reflektiert wird, wie auch über die kulturell bedingten Hintergründe, welche diesen Pflanzen ihr Überleben sichern. Die Orte für die Führung sind keine typischen, von Stadt- oder Landschaftsgärtnern konzipierte Böschungen, Beete oder Territorien, sondern vielmehr Orte, an denen die Natur eher als fremd oder als Eindringling erscheint. Sebastian Mundwiler interessieren dabei v. a. die komplexen Beziehungen zwischen den Verhältnissen von Pflanzen zur Gesellschaft und umgekehrt. Seine Überlegungen gehen Fragestellungen nach wie «was wächst wo?», «wo wächst was?» und «warum stehe ich gerade darauf?». Der Künstler untersucht das Zusammenspiel von Mensch, Gesellschaft und Natur. Oft ist nicht ganz klar, wo Natur anfängt oder aufhört. In unmittelbarer Umgebung vom Kunsthaus Baselland treffen der Stadt- und der Landkanton aufeinander. Der Fluss Birs, der die beiden Kantone trennt, ist auf städtischer und ländlicher Seite — je nach kantonalem Entscheid — anders gestaltet. Während auf der Seite des Kantons Baselland hohe Bäume stehen, wildes Gestrüpp vorhanden ist und die Wanderwege aus Erde und Steinen bestehen, ist auf städtischer Seite der Gehweg asphaltiert und die Bepflanzung stark reguliert. Den Künstler interessiert dabei nicht die politisch bedingte Diskrepanz, sondern vielmehr die Aufschlüsselung eines menschlichen Verhaltens, welches er in direkter Auseinandersetzung mit der jeweiligen Umgebung nachgeht. Mundwiler möchte mit seiner Fokussierung auf die Umgebungswahrnehmung auf ein System aufmerksam machen, welches sich nicht einfach mit bipolaren Werten unterscheiden lässt. So kann ein Biotop manchmal einem Heterotop entsprechen, je nachdem von welcher Seite aus es betrachtet wird.

Rudelius Julika G 2011 1
Julika Rudelius, Economic primacy, 2005, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2011, Foto: Kunsthaus Baselland

In ihren Videoarbeiten beschäftigt sich Julika Rudelius (geb. 1968 in Köln, lebt in Amsterdam und New York) mit menschlichen Verhaltensweisen, kommunikativen Codes sowie kulturellen und geschlechtsspezifischen Verhaltensmustern. Die für ihre Aufnahmen präzis definierten Orte werden oftmals speziell erstellt, so auch für die Videoinstallation Economic primacy (2005); hier dient ein durchschnittlicher Büroraum als Setting für eine Gesprächssituation mit fünf von der Künstlerin ausgewählten Männern. Ein Rechtsanwalt, ein Medien- und ein PR-Berater, ein Millionär sowie ein Topmanager antworten auf Fragen der Künstlerin, die der Betrachter des Videos nicht hört. In ihren Monologen erklären die Männer Geld und Gewinnvermehrung zum einzigen Ziel und gleichzeitig zur Triebfeder ihres Handelns. In beunruhigender Weise beschreibt die Arbeit wirtschaftliches Wachstum und Gewinnstreben als Voraussetzung für Macht und Einfluss. Ausgangspunkt für diese Arbeit bildet Rudelius’ Auseinandersetzung mit einer Liste psychologischer Erkennungsmerkmale von Psychopathen. Für die Künstlerin zeigten sich Parallelen zwischen der Beschreibung des Krankheitsbildes und dem kommunikativen Verhalten der erfolgreichen Geschäftsleute, wie beispielsweise die Absenz von Mitgefühl oder die manipulative Verwendung von Sprache.

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Franck Scurti, La Linea (Tractatus Logico-Economicus), 2001

Das Werk von Franck Scurti (F, geb. 1965 in Lyon, lebt und arbeitet in Paris) ist vom alltäglichen Leben geprägt. Aspekte der Konsumwelt, einer internationalen, urbanen Lifestyle-Kultur sowie der damit zusammenhängenden Musikszene fließen in seine Werke ein. Scurti bringt seine Arbeiten mit dem Begriff der Street Credibility in Bezug, jenem Begriff aus der Musikbranche, der Rap-Musikern Respekt und Glaubwürdigkeit auf der Straße, als ursprünglichem Entstehungsort des Rap, bescheinigt. Wenn der Künstler einzelne Motive aus dem Alltagsleben aufgreift, so übernimmt er konzeptuell auch bewusst die Konnotationen des Begriffs und die mit dem Objekt verbundene Sozialisierung. Der Künstler reproduzierte beispielsweise für sein Objekt Sandwich (1998) die Tür einer Bäckerei seines Wohnviertels samt den darauf angebrachten Labels und Hinweisen auf die Akzeptanz von Kreditkarten. Ein weiteres Beispiel ist das Werk Street Credibility (1998), für das der Künstler seine Schuhe mit dem Motiv des Pariser Stadtplans besohlen ließ. In der Ausstellung Über die Metapher des Wachstums im Kunsthaus Baselland zeigt Scurti das Video La Linea (2002), für das er In Absprache mit Osvaldo Cavandoli, dem Schöpfer der gleichnamigen Zeichentrickserie, eine neue Episode produziert hat. Der Zeichentrickfilm besteht aus einer einzigen Linie, aus der heraus die Figur und ihr direkter Kontext fließend entstehen. Ein Charakteristikum der Serie ist der direkte Dialog der Zeichentrickfigur mit ihrem Schöpfer, der in Reaktion nach und nach Elemente der Umgebung zeichnet und verändert. Scurti verwendete im Hintergrund seiner 2-minütigen Episode Grafiken aus der Wirtschaftspresse, die steigende und fallende Kurse darstellen und von ihm zu einer Art ökonomischer Landschaft interpretiert werden. Seine Version der Zeichentrickserie thematisiert Wechselwirkungen zwischen künstlerischer Produktion, Kreativität und Markt und vergleicht Phänomene in Wirtschaft und Kunst. Die Existenz der Figur wird in unmittelbaren Zusammenhang mit wirtschaftlichen Beweggründen gebracht, wobei der Künstler und das Kunsterzeugnis wortwörtlich am gleichen Strang ziehen.

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Lois Weinberger, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2011, Foto: Kunsthaus Baselland

Lois Weinberger (geb. 1947 in Stams/A, lebt in Wien) «arbeitet [...] an einem poetisch-politischen Netzwerk, welches den Blick auf Randzonen lenkt und Hierarchien unterschiedlicher Art in Frage stellt. Er versteht sich als Feldarbeiter und beginnt in den 1970er Jahren mit ethnopoetischen Arbeiten, welche die Basis bilden für die seit Jahrzehnten entwickelte künstlerische Auseinandersetzung mit dem Natur- und Zivilisationsraum. Ruderal-Pflanzen — ‹Unkraut› — die alle Bereiche unseres Lebens tangieren, sind Ausgangs- und Orientierungspunkt für Notizen, Zeichnungen, Fotos, Objekte, Texte, Filme und Arbeiten im öffentlichen Raum» (zit. www.loisweinberger.net). Seine Installation im Kunsthaus Baselland im Rahmen der Ausstellung greift auf einen frühen Entwurf aus dem Jahr 1991 zurück. Für den Wettbewerb Kunst & Raum St. Pölten (Regierungsviertel) konzipierte Weinberger einen Stahlkäfig, der im Außenraum einen Freiraum für ein unbeschränktes Wachstum von Pflanzen abgrenzt. Diese ‹Ruderaleinfriedung› war ursprünglich für verschiedene Orte, sowohl im Landschafts- als auch im städtischen Raum gedacht. Wild Cube — Ruderaleinfriedung (2010), so der Titel der Installation im Kunsthaus Baselland, umfasst drei Stahlkäfige, Zeichnungen, Skizzen und Fotografien rund um diese Konzeption, die sieben Jahre nach dem Wettbewerbsentwurf 1998/99, als 40 m langer Gitterkäfig an der Neuen Sozial- und Wirtschaftsuniversität in Innsbruck realisiert wurde. Die durchlässige Vergitterung lässt Pflanzensamen ins Innere ebenso wie von dort ins Äußere. Innerhalb der Einfriedung kann wachsen, was immer seinen Weg dorthin findet. «Die Gärten von Lois Weinberger, in denen Pflanzen und Erde weitgehend sich selbst überlassen und Unkraut umgewertet wird, in denen sich das Grün migriert und Neophyten Freigang haben, erscheinen vor diesem Hintergrund fast schon visionär. Sie sind radikaler Vorreiter und paradigmatisches Bespiel für neuere parasitäre und symbiotische Strategien im Umgang mit Natur.» (Susanne Witzgall)

Das Sichtbare — die Vergitterung — ist als Einfriedung gedacht / für einen Raum / entstanden aus einer präzisen Achtlosigkeit dem gegenüber / was allgemein als Natur bezeichnet wird. Im Weiteren und Eigentlichen eine Arbeit über das Werden und Vergehen — hin zu unserer unsichtbaren Natur / der Natur des Geistes.

Brachen / Peripherien / die unsere Urbanisierungsanstrengungen vor sich her schieben / sind Gärten / in denen sich die Grenzen als Weiterführendes — Bewegtes — Unsicheres zeigen.

Belassene Gärten der Vielfalt entsprechen heutigen Dringlichkeiten / dem Bemerken von Zäsuren / Verbindungen und ihren Vibrationen / den Garten als Zeichen des freiwilligen Verzichts / der Gelassenheit / des Nichteingreifens zu sehen. Und doch eine Second Hand Natur — in dem Ausmaß unserer Annäherung an die Natur / entschwindet sie.

So wird die Aufforstung dem Wind / den Vögeln / den ohnehin in der Erde befindlichen Samen überlassen bleiben — Spontanvegetation — eine Lücke im urbanen Raum — WILD CUBE. (Lois Weinberger)

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Andreas Zybach, Ohne Titel, 2011, Ausstellungsansicht Kunsthaus Baselland 2011, Foto: Kunsthaus Baselland

Andreas Zybach (CH, geb. 1975 in Olten, lebt und arbeitet in Berlin) setzt sich in seinen Arbeiten vielfach mit Fragestellungen aus den Forschungsbereichen der Technik, Biologie oder Architektur auseinander. Die Beobachtungen und Untersuchungen dieser Wissenschaften überführt Zybach in konzeptuelle Überlegungen der Kunst, die einen Bogen zu aktuellen, gesellschaftspolitischen Themen spannen. So dient ein aus den 1960er Jahren stammendes Konzept der Nasa für den Bau einer Raumstation als Ausgangsbasis für die Arbeit Rotating Space (2004). Raumfahrtforscher wie u. a. Wernher von Braun unternahmen Versuche, eine künstliche Schwerkraft zu erzeugen, die ähnliche Bedingungen wie auf der Erde herstellen sollte. Dafür entwickelten die Forscher eine ringförmige Raumstation, die durch ihre Rotationsbewegung im Inneren die nötige Schwerkraft produzierte. Vergleichbar mit Gewächshäusern und botanischen Gärten, in denen ebenfalls eine kontrollierte Umwelt erzeugt wird, versucht Zybach, in seiner Installation aus Stahl, Erde, Wasser und Pflanzensamen die beiden Ansätze zusammenzuführen. Sein rotierender Nachbau der Raumfahrtforschung verweist neben dem tatsächlichen pflanzlichen Wachstum in seinem Inneren allerdings auch auf die anhaltende menschliche Vision, den Lebensraum auf der Erde unbegrenzt erweitern zu können. Ein räumlich architektonisches Wachstum thematisiert die in einer ersten Umsetzung im Jahre 2003 realisierte Installation Ohne Titel (Architekturmodell), die für die Ausstellung im Kunsthaus Baselland eine ortsspezifische und inhaltliche Erweiterung erfährt. Papierbögen, die im Querformat mit Handlungsaufforderungen bedruckt sind, werden von einem Papierschredder in Leserichtung zerschnitten. Damit unterläuft Zybach die eigentliche Funktion des Schredderns: Die Maschine zerschneidet die Informationen nicht mehr bis zur Unkenntlichkeit, sondern separiert fein säuberlich Zeile für Zeile. Hebt der Rezipient einen Papierstreifen von dem im Laufe des zeituhrgesteuerten Schredderprozesses anwachsenden Haufen auf, wird er mit Sätzen wie «Bitte mitnehmen», «Bitte zerreißen», «Werfen Sie den Inhalt Ihrer Taschen auf den Boden» oder «Bitte verlassen Sie den Raum» konfrontiert. Andreas Zybach fügt seiner Arbeit damit eine kommunikative Ebene hinzu, auf der verschiedene Mini-Performances initiiert werden. Dazu Zybach: «Es ist der Versuch einer Auseinandersetzung mit sozialen Fragen wie Autorität und Autonomie — auch im Zusammenhang mit der Produktion von Kunstwerken. Finden sich genügend Interessierte für eine Idee bzw. ein Problem, folgt daraus oft eine räumliche Umsetzung. Teils um die Unterschiedlichkeit dieser Gemeinschaft nach außen hin architektonisch darzustellen, teils um das oder die zu lösenden Probleme zu verstecken.»